Uneitle Körper tanzen die Liebe

»Sacre - Ein Abend in drei Teilen« von Sasha Waltz in der Staatsoper Berlin

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Augen schließen, Sonnenwärme spüren, Gräser riechen. Von fern ertönt eine Flöte. Sieht man wieder hin, sollte ein bocksbeiniger Satyr träge auf der Wiese lagern, in Schilfrohre blasen und von Nymphen träumen. Soweit, so romantisch die Standard-Bildphantasie zum »Prélude à l’après-midi d’un Faune« von Claude Debussy. Wildere, tanzende Faune erfanden schon attische Vasenmaler; Vaslav Nijinski und die Ballets Russes holten sie erstmals in die Neuzeit.

Sasha Waltz erprobte die impressionistische Orchesterskizze nun erneut als Ballettmusik. Kein Gras, kein Faun, keine Nymphe in dieser Uraufführung, dafür die Kostüme und das halbhohe Bühnenkarree von GIOM in abstrakte Felder reiner Farben aufgeteilt. Tänzergruppen queren die Bühne, bilden Cluster, Skulpturen aus Körpern, sprengen sie wieder auseinander. Es ist ein fließendes Spiel von Versammlung und Vereinzelung. Die Bewegungen sind ruhig, jeder Einzelne scheint seinen Leib und seine Kraft sich selbst genügend zu genießen. Es gibt Übungen von Zärtlichkeit ohne die übergroßen Passionen der romantischen Liebe und die Qualen unerfüllter Wünsche. Waltz kreiert einen vorzivilisatorischen Zustand der Unschuld und Unbefangenheit. Daniel Barenboim und die Berliner Staatskapelle lassen dazu ein Wunder an traumverlorener pastellfarbener Transparenz aufleuchten.

Im nächsten Stück des dreiteiligen Abends kommt sie dann, die ganz große Passion, die exemplarische romantische Liebe, Gipfel zivilisatorisch-sittlichen Fortschritts. Emanuela Montanari und Antonio Sutera tanzen das Liebenspaar an sich, Romeo und Julia. Der Satz »Scène d’amour« aus Hector Berlioz’ Sinfonie-Oratorium »Romeo et Juliette« weiß noch nichts von Tod und Katastrophe für die jungen Liebenden. Er erzählt von nichts als Verliebtheit und Glück. Sasha Waltz schuf dazu einen Pas de deux, dem immer wieder klassische Anspielungen auf Hebungen, Drehungen, Symmetrien eingeschrieben sind. Mit großer Phantasie wird tänzerisch von nichts anderem als Freude und Harmonie erzählt, keine leichte Sache. Manchmal scheinen beide in synchronen Bewegungsflüssen zu einem Körper zu verschmelzen, dann wieder spielt Julia mit den Armen des Geliebten als seien es witzige Tierchen. Purer Übermut, Heiterkeit, Glückseligkeit - ein herzzerreißender Tanz, da man ja weiß, wie es ausgeht. Auch die Musik weiß es. Berlioz hat in seinen Satz aus purer Schönheit ganz kurze, dennoch dolchstichharte Warntöne hineinkomponiert.

Dann das titelgebende Hauptstück, Igor Strawinskis vor 100 Jahren in Paris unter riesigem Skandalgetöse uraufgeführtes Werk »Le Sacre du Printemps«. Waltz’ bereits in St. Petersburg, Paris und Brüssel gezeigte Choreografie erlebte nun mit ihrer eigenen Compagnie ihre Berliner Premiere.

Ein einsames Fagott-Solo mit einer russischen Weise und tönt durch eiskalt trüben Frühnebel, klamme Körper scheinen aus nackter Erde zu wachsen. Nach und nach kommen 28 Menschen herbei, große, kleine, schwarze, hellhäutige, östliche, westliche. Sie vollziehen die einzig entscheidende Teilung: hier die Männer, da die Frauen. Man wird getrennt tanzen, sich vermischen, kämpfen, einander würgen und anbeten, amphibisch platt über die Erde springen, Kulturgebärden antiker Chöre ausführen. Strawinskis archaisches russisches Frühlingsopferritual kennt bei Waltz keine Unterscheidungen. Nur Menschen toben im Rausch. Das Orchester stampft und schreit und peitscht ein. Die Choreographin schindet ihre Tänzer, noch in rasendster Trance ist jede Bewegung kontrolliert, liefert jeder Muskel Kunst. Daniel Barenboim im Orchestergraben verfährt genauso. Selbst in den heftigsten Toneruption musiziert er klangschön und er schmiegt sich uneitel der Choreographie an.

Ganz zuletzt erst, nachdem Männer, Frauen, sogar Kinder ausprobiert und verworfen sind, wird eine Frau aus dem Kubus der Tänzerkörper ausgestoßen: das Opfer für den Frühlingsgott ist gefunden. Sie reißt sich das Kleid vom Leib, tanzt ohne Musik, keuchend, bis sie tot umfällt, ohne dass ein riesiger Dolch, der sich aus dem Bühnenhimmel herabsenkt, sie berührt hätte.

Erst langsam findet das Publikum in tosenden Beifall hinein. Barenboim umarmt die Choreografin. Das Maßnehmen für den Waltz-Barenboim-»Tannhäuser« im Frühjahr ist geglückt.

Nächste Vorstellung: 2. November, 19.30 Uhr

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