nd-aktuell.de / 29.10.2013 / Politik / Seite 20

Im 2-Minuten-Takt nach Asien

Der 13 Kilometer lange Tunnel »Marmaray« unter dem Bosporus wird heute eröffnet

Carsten Hoffmann
Der Bahntunnel unter dem Bosporus ist eines der größten Infrastrukturprojekte der vergangenen Jahre. Pro Stunde sollen bis zu 75 000 Menschen in beide Richtungen befördert werden.

Ein schon im Osmanischen Reich gehegter Traum wird wahr: Mit einem Tunnel unter dem Bosporus haben Eisenbahner Europa und Asien auf neuem Wege verbunden. Für die stressgeplagten Pendler unter den mehr als 14 Millionen Einwohnern der Megastadt Istanbul wird das Leben auf zwei Kontinenten mit der neuen, 76 Kilometer langen »Marmaray«-Schienenstrecke leichter. Europa und Asien sind hier nur noch wenige Minuten voneinander entfernt, sobald der Tunnel am Dienstag zum 90. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik offiziell eröffnet wird.

Die technischen Herausforderungen des 2004 begonnenen Projektes waren enorm. Bis in eine Tiefe von etwa 50 Metern haben sich große Tunnelbohrmaschinen von beiden Seiten auf den Grund der Meerenge gefräst. Dort wurden in 56 Metern Tiefe elf Tunnelelemente aus Beton und Stahl verankert. Das mehr als 13 Kilometer lange Bauwerk verläuft nun teils unterirdisch, teils als in den Meeresboden eingespülte Röhre.

Die im Zweiminutentakt verkehrenden Züge sollen bis zu 75 000 Menschen pro Stunde befördern. Mehr als 2,5 Milliarden Euro kostet das Projekt. Die Konstrukteure versprechen, dass der Tunnel schwersten Erdbeben standhalten werde - nur 20 Kilometer entfernt verläuft die Nordanatolische Verwerfungszone.

Der Tunnel sei in Istanbul das sicherste Bauwerk überhaupt, verspricht Transportminister Binali Yildrim. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan selbst steuerte schon im August in einer Testfahrt einen Zug durch den Tunnel. »Unsere Vorfahren haben an den Entwürfen gearbeitet. Die Verwirklichung aber wird nun uns zuteil«, sagte er.

Ideen für einen Tunnel unter dem Bosporus gab es bereits 1860. Damals dachten die Ingenieure an eine Röhre, die auf Pfeilern ruhend zwar tief im Wasser, aber doch über dem Meeresgrund verlaufen sollte. Mit der damals verfügbaren Technik blieb es eine Vision. Mehr als 100 Jahre später gab es neue Machbarkeitsstudien. Schließlich wurde das Projekt »Marmaray« angestoßen, ein Kunstwort zusammengesetzt aus Marmara, dem Binnenmeer zwischen Bosporus und Ägäis, sowie »ray«, dem türkischen Wort für Gleis.

Die Türkei denkt schon weiter. In einem zweiten Schritt wird der Bahntunnel auch für den Fernverkehr ausgebaut. Die Strecke soll auch Teilstück einer »eisernen Seidenstraße« zwischen Asien, dem Nahen Osten und Europa werden.

Einige Tunnelbauer und türkische Regierungsvertreter äußern sich, als hätten sie Asien und Europa erstmals verbunden. »Mit dem ›Marmaray‹-Projekt sind Peking und London mit einem Schienenkorridor verbunden«, erklärte Süleyman Karaman, Chef der staatlichen türkischen Eisenbahngesellschaft TCDD. Allerdings konnte man schon vorher im Zug von London über Berlin und Moskau nach Peking fahren. Im Ural passiert die Transsibirische Eisenbahn die Grenze zwischen Europa und Asien. »Marmaray« ist eine mögliche Alternativstrecke. Sie soll als erste normalspurige Schienenverbindung zwischen Europa und Asien genutzt werden.

Der Bosporus-Tunnel ist eines von mehreren Großprojekten, mit denen die Regierung von Ministerpräsident Erdogan Istanbul umbaut. Geplant sind eine dritte Bosporusbrücke sowie ein weiterer Flughafen auf der europäischen Seite, mit dem Istanbul unter die wichtigsten Drehkreuze im weltweiten Luftverkehr aufrücken will.

Zudem will Erdogan das Schwarze Meer und das Marmarameer mit einem großen Kanal verbinden. Für den Schiffsverkehr soll westlich von Istanbul eine Art zweiter Bosporus gegraben werden. Der Bau, den Erdogan selbst mit demonstrativem Stolz als »verrücktes Projekt« bezeichnet, soll zum 100. Geburtstag der Türkischen Republik 2023 fertig sein.

Die von Erdogan mitunter autoritär durchgedrückten Großprojekte sind immer wieder heftig umstritten. Bürger protestieren, nicht nur weil für den Bau der Brücke kostbarer Wald abgeholzt wird.

Wenn nötig würde er eine Moschee einreißen, um eine wichtige Straße zu bauen, entgegnete der islamisch-konservative Regierungschef vor einigen Tagen. Die Menschen in Istanbul müssten aber auch ihr Verhältnis zum Auto überdenken, sagte Erdogan. »In der modernen Stadt läuft der Verkehr nicht über Privatwagen, sondern über den öffentlichen Nahverkehr«, sagte er. dpa