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Jedem Ende wohnt ein Zauber inne

Das Staatsschauspiel Dresden hat Jochen Schmidts Ferienlager-Roman »Schneckenmühle« auf die kleine Bühne gebracht

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Reifung des Kindes zum Erwachsenen - oder umgekehrt: seine Metamorphose vom fröhlich flatternden Schmetterling zur kriechenden Raupe - hat sich im Lauf der Literaturgeschichte in tollen Geschichten zuhauf vollzogen. So viele Vierzehnjährige wie jüngst, scheint’s, sind in deutschsprachigen Romanen aber schon lange nicht mehr zwischen kindlicher Unbefangenheit und böser Erwachsenenwelt balanciert, um da- oder dorthin abzustürzen. Angefangen hat das vielleicht mit Wolfgang Herrndorfs mitreißendem »Tschick« (2010), das jüngste Beispiel ist Stefanie de Valescos »Tigermilch« (Herbst 2013).

Jochen Schmidts »Schneckenmühle«, erschienen im vergangenen Frühjahr, ist ein Sonderfall. Man kann dieses Buch ebenso gut als Wenderoman bezeichnen. Bei Schmidt steht im Untertitel stattdessen »Langsame Runde«. Held Jens, 14 Jahre alt und völlig unbegabt zum Disko-Tanzen, erlebt darin den Sommer 1989 in einem sächsischen Kinderferienlager - Wochen, die alles umwälzen.

Umwälzend sind die Witze und die Zukunftsprotzereien seiner Zimmergenossen, sind die kleinen Kraftproben mit den Betreuern und die verstohlenen Blicke auf die Brüste der Mädchen. - Sommer 89, war da nicht was? Fluchtwelle, Proteste, Friedensgebete; all das, was heute Geschichte ist, passiert in »Schneckenmühle«, weil es den Figuren nicht viel bedeutet, am Rande. Aber es ist unser stilles Wissen um diese Ereignisse, das dieses Buch einzigartig macht.

Und es ist der Ton des Erzählers. Der Monolog dieses absonderlichen Jungen mit Westverwandtschaft und christlicher Familie schwingt sich immerfort und immer mit Witz vom Naivsten zum Philosophischen auf (oder ab). Jochen Schmidt ist ein Meister des Details und der Pointe. Seine Regale müssen voll bekritzelter Notizhefte stehen; so viele, so präzise Erinnerungen tummeln sich in seinem Buch, dessen Schluss auf allen Ebenen eine Öffnung ins Unbekannte und nicht wirklich Gewollte ist.

»Schneckenmühle«, kurz nach Erscheinen schon im Theater. Wie soll das gehen, wenn das Buch doch zuallererst von den Erzählergedanken lebt? Ein Monodram, allenfalls, wäre denkbar. Beret Eversen (Dramaturgie) und Robert Lehniger (Regie) haben für ihre Bearbeitung im Kleinen Haus 3 des Dresdner Staatsschauspiels einen anderen Weg gewählt: fünf, nein: sieben Schauspieler (vier junge Männer, eine Frau, zwei Weinbergschnecken) in beinahe zwanzig Rollen, zwei Videowände und ein spartanisches Bühnenbild (Irene Ip), in dem die Tischtennisplatte im Nu zum Lkw der Sowjetarmee oder zum Krankenbett mutiert. »Schneckenmühle« als Kammerspiel - es funktioniert! Dank guter Regiefantasie, atmosphärischer Musikalität (Komposition: Johannes Lehniger) und großem Spielspaß (Tobias Krüger, Lukas Mundas und Max Rothbart sind noch Schauspielstudenten) ist der Abend so unterhaltsam wie intelligent.

Die im Buch so zentrale Erzähler-Perspektive wird in Theatersprache übersetzt durch eine Kamera, die dicht über Jens’ Gesicht hängt (toll staunend: Thomas Braungardt) und dessen Mimik übergroß auf die Leinwand wirft. Womöglich fänden Tierschützer es angebrachter, für Jens’ Wunsch, es solle »möglichst viel Zeit bleiben, bis die Zukunft beginnt«, ein anderes Sinnbild zu finden als lebendige Schnecken, die sich über das Gesicht des Schauspielers schleimen. Aber besser, als auf dem Waldweg zertrampelt zu werden, tut den Tieren diese Karriere doch allemal. Und einprägsamer als dieses Bild ist nun mal kein anderes, das den Grundton von »Schneckenmühle« träfe. Toll auch das Spiel von Laina Schwarz, die in Sekundenschnelle durch den Wechsel eines Oberteils von einer Rolle in die andere schlüpft: Sie gibt die gemobbte Sächsin Peggy so überzeugend wie deren maulheldische Rivalin Birgit oder die militärisch gestrenge Lagerleiterin Rita.

Regisseur Robert Lehniger, studierter Mediengestalter und bewährt in der Theaterarbeit mit »neuen Medien«, weiß mit Videowänden mehr anzufangen, als darauf verborgene Szenen zu projizieren. Mit seinem Team ist er in jenes Ferienlager »Schneckenmühle« gefahren, das es unweit Dresdens tatsächlich gibt. Einstmals unterm Namen »Fritz Schulze« der Erholung von Kindern der Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR vorbehalten, kosten dort heute noch Schüler die Freiheit (von den Eltern) aus. Lehniger hat quasidokumentarische Aufnahmen der Jetztzeit in seine Inszenierung eingebaut. Das hat Fug.

Denn so spezifisch Schmidts Roman aufs DDR-Ende zugeschnitten ist, so allgemein ist der Zauber, der dem Ende jeder Kindheit innewohnt. Dass die Inszenierung es schafft, Schmidts Stoff ins immer Gültige zu überführen und gleichzeitig charakteristische Jugenderinnerungen an die letzten DDR-Wochen wachzuhalten - auch das macht ihren Reiz aus.

Nächste Vorstellungen: 31.10., 9.11.

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