Der Mann, der Darwin schockierte

Vor 100 Jahren starb der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace. Er entdeckte im indonesischen Dschungel eigenständig das Prinzip der natürlichen Auslese

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Viele Wissenschaftler haben durch ihre Entdeckungen Weltruhm erlangt. Wie Charles Darwin, der heute zurecht als Begründer der modernen Evolutionstheorie gilt. Andere wurden von ihren Zeitgenossen verkannt oder von der Nachwelt vergessen, obwohl auch sie maßgeblich dazu beigetragen hatten, den Erkenntnisfortschritt zu befördern.

Einer von ihnen ist Alfred Russel Wallace, der im Februar 1858 auf der Molukken-Insel Halmahera schwer erkrankt daniederlag. Mitten im Malaria-Fieberrausch kam ihm plötzlich eine, wie sich später herausstellen sollte, bahnbrechende Idee: Da alle Tiere zu viele Nachkommen produzieren, kommt es zwischen diesen zu einem Daseinskampf (engl. »struggle for existence«), bei dem in jeder Generation nur die am besten an ihre Umwelt angepassten Individuen überleben. Wallace führte diesen Gedanken in einem Essay weiter aus und schickte das 20-seitige Manuskript per Post an Darwin.

Der war schockiert. »All meine Originalität ist zertrümmert«, schrieb er nach Erhalt des Briefes an den Geologen Charles Lyell und fügte hinzu: »Wenn Wallace meine handschriftliche Skizze vom Jahre 1842 hätte, hätte er keinen besseren Auszug machen können.« Obwohl sich Darwin seiner Rolle als Erstentdecker gewiss war, hielt er es für ein Gebot der Fairness, auch den Beitrag von Wallace zu würdigen. Am 1. Juli 1858 war es soweit. Auf einer Sitzung der Linnean Society in London wurden gleich drei Manuskripte verlesen, die eine kurze Darlegung dessen boten, was man heute Theorie der natürlichen Auslese nennt. Zwei der Texte hatte Darwin verfasst, der dritte stammte von Wallace und enthielt die wegweisende Bemerkung, dass es keine Vererbung erworbener Eigenschaften gebe. Beide Forscher waren bei der Sitzung nicht anwesend. Wallace weilte noch in Asien, und Darwin betrauerte seinen soeben gestorbenen jüngsten Sohn.

Allerdings hatte ihn die ganze Geschichte so aufgerüttelt, dass er ein Jahr später sein berühmtes Buch über »Die Entstehung der Arten« veröffentlichte. Zwar rückte Wallace danach in die zweite Reihe, sah jedoch keinen Grund, sich dagegen aufzulehnen. Vielmehr erkannte er Darwins Priorität vorbehaltlos an und prägte den Begriff »Darwinismus«.

Aber auch Wallace ging in die Annalen der Wissenschaft ein, unter anderem als Mitbegründer der sogenannten Biogeografie. Bei der Untersuchung der regionalen Verbreitung von Tierarten hatte er nämlich festgestellt, dass sich die Fauna von Südostasien von der Australiens grundlegend unterscheidet. Nach einem Vorschlag von Thomas Henry Huxley wird die geografische Linie, welche die asiatische Fauna (Orientalis) von der australischen Fauna (Australis) trennt, bis heute als »Wallace-Linie« bezeichnet. Sie verläuft im Süden zwischen Bali und Lombok und weiter nördlich zwischen Borneo und Sulawesi.

Zum Entsetzen vieler seiner Kollegen wandte sich Wallace in seinen späteren Jahren dem Spiritismus zu und beschäftigte sich allen Ernstes mit so obskuren Dingen wie dem Tischrücken und der Geisterfotografie. Einer, der sich deswegen über ihn lustig machte, war Friedrich Engels in seinem Artikel »Die Naturforschung in der Geisterwelt«.

Ausgehend von spiritistischen Vorstellungen unternahm Wallace zu guter Letzt den Versuch, die Entstehung des menschlichen Bewusstseins aus dem Wirken einer universellen geistigen Kraft abzuleiten. Die natürliche Auslese benötigte er hierfür nicht. Als Darwin davon erfuhr, reagierte er gereizt und schrieb in einem Brief an Wallace: »Wie Sie schon erwartet haben, bin ich völlig anderer Meinung als Sie, und das tut mir sehr leid.« Doch trotz dieser Abfuhr blieb Wallace ein Bewunderer der Theorie Darwins, an deren Entstehung er selbst maßgeblich beteiligt war - und sei es nur, dass er Darwin gleichsam genötigt hatte, seine Ideen endlich der Öffentlichkeit mitzuteilen. Wallace starb am 7. November 1913 im südenglischen Dorset. Er wurde 90 Jahre alt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal