nd-aktuell.de / 04.11.2013 / Politik / Seite 3

Chiles Artesanales gegen die Privatisierung der Fische

Cosme Caracciola aus San Antonio kämpft mit dem kleinen Boot gegen die großen Trawler

Frederico Füllgraf, Concepción
Ob die Fische dem Volke oder in Privathand gehören, fechten Fischer in Chile aus. Um zu überleben, kämpfen sie gegen die »sieben Großen«.

Eingekeilt zwischen Trawlern und Lachsfarmen bangen die kleingewerblichen Fischer Chiles, Artesanales genannt, um ihre Zukunft. Seit Dezember 2012 ist ein neues Fischerei-Gesetz, genannt »Ley Longueira«, in Kraft. Mit Unterstützung des überwiegend konservativen Parlaments, peitschte Sebastián Piñeras Ex-Wirtschaftsminister Pablo Longueira eine drakonische Privatisierung der chilenischen Fischgründe durch. Sie begünstigt sieben Familien und schädigt 150 000 kleingewerbliche Fischer. Auf sie entfallen 50 Prozent des chilenischen Fischfangs.

Während das neue Gesetz von den Parlamentariern in der Hauptstadt Santiago debattiert wurde, reichten die Artesanales 50 Einzelforderungen ein. Doch sie wurden nicht gehört. Die Fischer organisierten Protestmärsche in die ferne Hauptstadt - doch alles vergeblich. Schließlich platzte ihnen der Kragen: Von Nord- bis Südchile blockierten sie Zufahrtsstraßen in die Fischereihäfen, errichteten Barrikaden, setzten Bootswracks und alte Autoreifen in Brand. Es kam zu Zusammenstößen mit den berüchtigten Carabineros.

Zwei Jahre lang schien der Bürgerkrieg an der chilenischen Küste zu toben. Ein Dreivierteljahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wurden Bestechungen von Abgeordneten durch die Fischerei-Industrie bekannt. Die Fischer laufen Sturm. Sie verlangen die Annullierung des Gesetzes.

Artesanales - eine aussterbende Spezies

Drei Männer an Bord eines hölzernen Fischkutters lächeln in die Kamera. Zu ihren Füssen liegt ausgestreckt ein etwa drei Meter langer Schwertfisch. »Der war eine gute halbe Tonne schwer!«, erinnert sich Cosme Caracciolo und kratzt sich nachdenklich den Stoppelbart. Wir sitzen am Küchentisch seines bescheidenen Holzhauses im zentralchilenischen San Antonio. Hier wohnt der Mittfünfziger gemeinsam mit Ehefrau, zwei Söhnen, Schwiegertöchtern und einem Enkel. Über uns hängt ein verblasstes, etwa 30 Mal 30 Zentimeter großes Foto vom Boot seines Vaters. Die rund 30 Jahre alte Aufnahme zeigt den jüngeren Cosme, seinen Bruder und ihren Vater auf See. Das Boot hatte der Vater vom Großvater geerbt, einem italienischen Einwanderer, der um 1930 seinen Sohn in das Fischerei-Handwerk einweihte.

»Das waren Zeiten!«, seufzt Caracciolo. Oft waren sie mehrere Wochen unterwegs, bis hinunter an die 1000 Kilometer entfernten Fjorde der patagonischen Küste. Sie fischten, verkauften ihren Fang in den kleinen Häfen, nahmen wieder Kurs auf die Nordküste und fischten weiter. Seemüde liefen sie Wochen später wieder in San Antonio ein.

Ausfahrten wie die seiner Familie, sagt Caracciolo, machten sie nicht reich. Doch man aß und trank gut, man war gesund. Die Umsätze deckten den Lebensunterhalt für mehrere Monate. Damit ist jetzt Schluss: Während die großen Trawler unbegrenzt ihre Schleppnetze an der 4000 Kilometer langen Küste auswerfen dürfen, verbietet das neue Gesetz den kleingewerblichen Fischern die Ausbeutung von Fischgründen in benachbarten Provinzen.

Die letzten Jäger der Weltgeschichte

Schlimmer noch: Die Artesanales verloren die exklusive Fünfmeilen-Zone, die ihnen das alte Gesetz entlang der Küste zusicherte. Nun sollen sie sich auf einen schmalen Einmeilen-Streifen zurückziehen. »Wir sind die letzten Jäger der Weltgeschichte, und man droht uns auszurotten!«, protestiert der Fischer in der dritten Generation.

Caracciolo ist Vorstandsmitglied des Condepp, des Nationalen Rates zum Schutz des Fischerei-Erbes. Dazu gehört die schmackhafte und populäre Makrele, die jedoch seit Jahren schon Mangelware ist. Folge der Überfischung durch die Großtrawler ist ein dramatischer Artenschwund.

Sieben Familien beherrschen die Fischerei

Condepps Vizepräsidenten Nelson Estrada erinnert das neue Fischereigesetz an »Den Paten«. Als chilenischer Don Corleone habe Pablo Longueira die Privatisierung zum Vorteil sieben mächtiger Reederei-Familien durchgepeitscht: Angelini, Sarkis, Stengel, Cifuentes, Jiménez, Izquierdo und Cruz. Sie erhielten vererbbare Fangquoten für die kommenden 20 Jahre, die fortdauernde Geltung haben. Hintergrund des Ressourcen-Transfers ist der Absturz des Fanganteils der »Sieben« von 78 Prozent auf 48 Prozent zwischen den Jahren 2000 und 2012.

Fischer und kritische Meeresbiologen sprechen längst vom »colapso de los recursos pesqueros«, dem Zusammenbruch der Fischressourcen. Greenpeace, zu Beginn noch auf Seiten der Fischer, wechselte sogar die Fronten und lobte das Longueira-Gesetz wegen seiner angeblichen »Zusicherung von Nachhaltigkeit«. Die Fischer reagierten entsetzt. »Das Longueira-Gesetz legt eindeutig festlegt, dass 60 Prozent der Seehecht-Bestände in den kommenden 25 Jahren mit Schleppnetzen abgefischt werden sollen. Das ist in drei Jahren das Ende des Seehechts! Fortgeschrieben wird hier die destruktive und nicht die selektive Fischerei!«, kontert Caracciolo.

Lautaro Carmona, kommunistischer Abgeordneter und mit drei weiteren Parlamentarier-Kollegen Sprachrohr der Fischer im Kongress, nennt die Verstöße des Longueira-Gesetzes gegen die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) einen Skandal. Auch Chile hatte 2008 die Konvention unterzeichnet, nach der die Rechte der Urvölker im Lande - vor allem der rund eine Million Mapuche - berücksichtigt werden sollten. Jede Form von Rohstoff-Nutzung an oder auf deren Territorien, zu denen weite Teile der chilenischen Südküste gehören, bedürften also der ausdrücklichen Anhörung und Mitsprache der Betroffenen. Das wären in diesem Fall die Lafkenche-Fischer Biobios und Araucanías. Doch Longueira scherte sich einen Dreck um die UN-Konvention.

Mitte dieses Jahres wurde bekannt, dass die konservative Abgeordnete Marta Isasi gegen fette Honorare »Berater«-Gutachten für den Fischerei-Unternehmerverband Corpesca geliefert hatte. Isasis Tätigkeit offenbarte aber nur die Spitze des Eisbergs. »Interessenkonflikte« zahlreicher Parlamentarier sorgten für Schlagzeilen: Während der Abstimmung des Privatisierungsgesetzes stimmten nicht nur Konservative wie Marisol Turres und Gustavo Hasbún von der Regierungspartei UDI gegen das staatliche Kontrollmonopol über die Fischerei, sondern auch oppositionelle Sozialisten, Sozialdemokraten und Christdemokraten. Sie alle waren kaum zufällig in den traditionellen Fischerei-Provinzen beheimatet. Schließlich erfuhr die Öffentlichkeit auch noch, dass ehrenwerte Senatoren der Republik Aktionäre der »sieben Großen« waren.

Die Kampfansage lautet ziviler Ungehorsam

Im Juni 2013 versammelte Condepp 1000 Delegierte der Artesanales aus ganz Chile in Puerto Montt und forderte die sofortige und uneingeschränkte Annullierung des »korrupten und illegitimen« Longueira-Gesetzes. Als der Minister, der damals noch als Spitzenkandidat der Rechten gegen Michelle Bachelet angetreten war, eine Wahlveranstaltung in Concepción besuchte, wurde er von Tausenden von Fischern eingekesselt und zur »unerwünschten Person« erklärt. Wenige Wochen später verschwand er vorerst von der politischen Bühne. Doch jetzt tritt er als Vertreter der Regierung bei den Präsidentschaftswahlen an.

Condepp und befreundete Organisationen verkündeten die »Aktionseinheit für eine neue demokratische Regierbarkeit unseres Meeres«. Die Internationale Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO, länderübergreifende Netzwerke der kleingewerblichen Fischer und Juristen wurden eingeschaltet. Die von der linken Opposition unterstützte Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet hatte während ihrer ersten Regierungszeit von 2006 bis 2010 den »sieben Großen« tatenlos zugesehen. Nun traf sie sich mit den Artesanales und versprach, bei einer Wiederwahl das Gesetz zu ändern.

»Sollen wir die Hände in den Schoß legen?«, fragt Cosme Caracciolo. Seine Antwort ist eine Kampfansage: »Ziviler Ungehorsam! Wir fischen weiter - mit oder ohne Gesetz, wo es uns passt. Die Fische gehören dem Volk!«