Hundert Mark von Bertolt Brecht

Eine Entdeckung: die Retrospektive der Filme von Peter Voigt beim Dokfilmfestival in Leipzig

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 3 Min.

Man wusste es schon lange, dass Peter Voigt ein Dokumentarfilmer von Format ist. Jedoch standen sein Name und seine Filme immer im Schatten von Kollegen, obwohl er über Jahrzehnte bemerkenswerte Filme gemacht hat. Eigenreklame war seine Sache nicht, und Moden hat er nicht mitgemacht. Ein Außenseiter eigener Art. Nun bot eine Hommage beim 56. Leipziger Dokfilmfestival einen kompakten, in seiner Vielfalt aufregenden und in seiner Strenge anspruchsvollen Gang durch sein Werk. Ein Geheimtipp im überreichen Angebot des Festivals und unversehens ein eruptiver Glanzpunkt, bestens besucht. Endlich fand der 80-Jährige internationale Anerkennung.

Unter dem Titel »Form und Vergänglichkeit« hat die Kuratorin Grit Lemke mit ihrem Team Filme auch aus entlegenen Orten zusammengeführt. Der treffende Titel zielt mitten ins Werk: Voigt formt seine Filme streng, konsequent, zuschauerbewusst. Da ist kein Meter zu viel, keine Einstellung zufällig, jedes Arrangement durchdacht, gegliedert, überschaubar, sinnlich. Und Vergänglichkeit meint deutsche Geschichte und eigene Biografie: als Prozess im Jahrhundertmaß und mit allen schmerzhaften, bitteren Knotenpunkten.

Voigts Ästhetik geht zweifellos auf seine Jahre bei Brecht zurück. Bei ihm war er der jüngste Assistent (mit privatem Zutritt) und quasi ein Mädchen für alles. Brecht schenkte ihm einmal 100 Mark, damit er sich Material zum Zeichnen kaufen könne. Eine gute Investition. Aber sehr viel mehr als das Geld bildete der Schatz an Arbeit, Umgang mit Texten, Kollegen, Inszenierungen einen ästhetischen und moralischen Fundus, aus dem Voigt stets schöpfte. Und den lebensgültigen dialektischen Blick auf die Welt und eine gesunde Skepsis gegenüber Alltag und Phrase behielt er bis heute.

Die Anfänge davon findet man in »Dämmerung - Ostberliner Bohème der 50er Jahre« (1993): das kaputte, wilde, unruhige Nachkriegsberlin und Aufbrüche und Hoffnungen allerorten. Nach allerlei Zwischenstationen (u.a. im Dresdner Trickfilmstudio) arbeitet er lange Jahre als selbstständiger Partner im Studio H & S und realisierte seine eigenen Projekte (meist mit dem kongenialen Kameramann Christian Lehmann).

In die eigene Kindheit im besetzten Polen geht er mit »Stein schleift Schere« (1986) zurück. Der biografische Exkurs bildet eine strenge Selbstbefragung nach Schuld und Gehorsam. Und Voigt ist rücksichtslos offen, auch sich selbst gegenüber. Genauso in »Knabenjahre« (1989) in der Partnerschaft mit Männern seiner Generation. Selbstbefragung als lebenslange Aufgabe und als filmisches Instrument.

Man sieht viele Bezüge zwischen den Bildern und Motiven. Bilder antworten auf andere Bilder, spielen Varianten durch, fordern andere, anfänglich fremde Bilder heraus. Er achtet den sinnlichen Materialwert alter Fotos. So entstehen sinnliche Gewebe voller Anzüglichkeiten und Gedankenangeboten, die Blick und Denken des Zuschauers anreizen. Seine eigenen Kommentartexte sind sorgfältig durchgeformte Prosa - ohne ein überflüssiges Wort, ohne Phrasen oder Pathos, treffend, unalltäglich, sachlich, zum genauen Zuhören.

Voigt fügt oft zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört: er spielt Orffs »Carmina burana« vor einem bunten Aquarium ein (»Knabenjahre«). Biografie-Fotos des legendären Sängers Ernst Busch unterlegt er durchgängig mit dem abgefilmten Pergamon-Fries in »Ich bin Ernst Busch« (2000). Buschs Konflikte mit Parteioberen bekommen mit diesem Griff zu Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« Jahrhundert-Koordinaten. Den Koloss des Leipziger Völkerschlachtdenkmals dreht er mit einer gespenstischen NPD-Fahnenkulisse unter grauen Regenwolken. Frech und mit scharfen Kon᠆trasten setzt er Texte von Karl Marx zu Bachs Musik beim Betrachten von Fotos aus den heftigen sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts (hier schöpfte er aus seinen Erfahrungen bei der Gestaltung der Stelen zum Berliner Marx-Engels-Forum 1983). Die Auskünfte des Bildhauers Wieland Förster über seine NKWD-Haft in Dresden (»Die Begnadigung«, 1991), auch er ein 80-Jähriger, werden zur gedämpft-melancholischen Überlebensfeier. Noch der naive Rekonstruktionsversuch, aus überlieferten Schwarz-Weiß-Fotos Brechts Inszenierung von »Hofmeister« wiederzubeleben oder simple technische Zeichnungen aus alten Anleitungsbüchern für Heiner Müllers »Kentauren« (1988), die Voigt zu Dokumenten ordnet, bieten einen Atemzug von Geschichte.

Voigts Filme bleiben eine dialektische Herausforderung und ein filmischer Genuss mit Anspruch.

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