Rassismus kinderleicht gemacht

Stereotype von Roma halten sich heute hartnäckig selbst in wissenschaftlichen Kreisen

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 3 Min.
Überall in Deutschland werden Roma-Kinder Opfer von Armut, Anfeindungen und Ausgrenzung. Mit ihren Eltern hat das weniger zu tun als mit dem Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft.

Ein kleines Mädchen verschwindet aus der Wiege. Tage später steht die Mutter dem »Zigeunerweib« gegenüber und reißt ihr das Kind aus den Armen. Nicht erst seit E.T.A. Hoffmanns Novelle »Das öde Haus« ist das Stereotyp des »kinderraubenden Zigeuners« Motiv der deutschen Literatur. Von Luther, Goethe, Schiller und Brentano bis zu den heutigen Tageszeitungsschreibern sind die Geschichten meist fiktiv. Die Diskriminierung, die sie gegenüber Roma und ihren Kindern befördern, ist real.

Eine »Auffrischung unserer Stereotype« nennt Christoph Leucht die Medienberichterstattung um das griechische Roma-Ehepaar, das in den Verdacht geriet, ein Kind entführt zu haben. Das stellte sich als falsch heraus, doch das Feindbild blieb. Leucht arbeitet mit Roma-Kindern an einem der realen Orte ihrer Ausgrenzung: Schulen. Er ist Berater beim europäischen Trainingsprogramm für Roma-Mediatoren. Sie bringen Eltern, Schüler und Lehrer zusammen. Sie übersetzen, lösen Konflikte, helfen Eltern bei Behördengängen. Und doch scheinen Leuchts größte Herausforderungen 500 Jahre alte Klischees zu sein: Roma als Bettler, Kinderräuber, umherfahrende Kriminelle.

Bis heute halten sich Stereotype selbst in wissenschaftlichen Kreisen. Dass die fehlende Bildung von Roma genetisch bedingt sei, meint zum Beispiel der Neo-Eugeniker Volkmar Weiss. Darauf begründet fordert der ehemalige Chef der Deutschen Zentralstelle für Genealogie deshalb ein Einwanderungsverbot. Andere versuchen seine Forderung in die Tat umzusetzen.

Fast wöchentlich kommt es zu Übergriffen auf Roma-Einrichtungen: In der vergangenen Woche verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf ein Kulturzentrum für Sinti und Roma in Oldenburg. Vor zwei Wochen konnten sich in Duisburg 42 Menschen aus einem brennenden und ausschließlich von Roma bewohnten Haus nur noch aufs Dach retten. In derselben Stadt muss die Polizei in einem anderen Fall seit Wochen Anwohner und mit Knüppeln bewaffnete Neonazis davon abhalten, das umzusetzen, was in Facebook-Gruppen regelmäßig gefordert wird: »Zündet das Zigeunerhaus einfach an«.

Kein Rassismus ist in Deutschland so verbreitet wie der Antiziganismus: Mehr als jeder vierte Deutsche fordert, Sinti und Roma aus deutschen Innenstädten zu verbannen, belegt die Studie »Deutsche Zustände« von Wilhelm Heitmeyer aus dem Jahr 2011. Fast jeder zweite gibt sich überzeugt, »Sinti und Roma neigen zur Kriminalität«.

Leuchts Mentoren erleben die alltägliche Dimension der Diskriminierung: Beschimpfungen auf dem Schulhof, flende Erwartungshaltungen gegenüber Roma-Kindern bei den Lehrern. Sieben Mentoren arbeiten in dem Projekt in Berlin, 15 in Hamburg. Wie viele Roma-Kinder ihnen gegenüber stehen, ist statistisch nicht erfasst. 120 000 Roma, schätzt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, leben in Deutschland. Sicher ist: Der Anteil an Kindern und Jugendlichen ist überdurchschnittlich hoch. Der Teil von ihnen, der eine weiterführende Schule besuchen wird, überdurchschnittlich niedrig.

»Es ist der Geruch der Armut, nicht der Geruch der Roma«, schreibt der Südosteuropa-Journalist Norbert Mappes-Niediek in seinem Buch »Arme Roma, böse Zigeuner«. Beschäftigung, Wohnraum, Bildung, öffentliche Teilhabe: In so ziemlich jedem Lebensbereich werden Roma und Sinti diskriminiert - so stark wie keine andere Minderheit in Europa, ergab eine Studie der EU-Grundrechteagentur FRA.

Diskriminierung beginnt, sagt Leucht, »wenn Lehrer meinen, Roma und Bildung passen nicht zusammen.« Und »wenn Zeitungen mit Zigeunergeschichten aus dem 15. Jahrhundert die Auflage aufbessern«. In Hoffmanns »Das öde Haus« entlastet der Erzähler die »Zigeunerin« übrigens am Ende vom Vorwurf des Kindesraubs. Auch eine vermeintlich kriminelle »Zigeunerbande« wird rehabilitiert. Hoffmann war eben doch Romantiker und kein Realist.

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