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Ein Kunstkonzept für den Kampfeinsatz

Klassik und Sozialismus - Notizen von der sechsten Peter-Hacks-Tagung

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 8 Min.

Das Thema »Klassik« wirkt 2013 anachronistisch. Die Welt ist bunt und konfus wie nie, der Pluralismus ist Doktrin. Alles gilt. Und alles gilt gleich viel. Wer sich Höhe anmaßt, also vom Standpunkt eines Ideals argumentiert, um von dort aus gültige Werturteile zu fällen, ist schnell als Anhänger eines überholten, weil totalitären Kulturbegriffs entlarvt. Das Feld der Ästhetik ist heute ein Acker, auf dem es von Mäusen wimmelt.

Das Häuflein Philologen, das sich am vergangenen Wochenende auf Einladung der Peter-Hacks-Gesellschaft im Berliner Magnus-Haus einfand, um das Verhältnis des sozialistischen Dichters zur Klassik zu erörtern, schien also, was die Relevanz seines Forschungsgegenstands für die Gegenwart betrifft, auf verlorenem Posten zu stehen. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, denn die Aufarbeitung von Leben und Werk eines Schriftstellers ist ja auch dann ein ehrenwertes Unterfangen, wenn ihre Erkenntnisse ausschließlich literaturhistorischer Art sind. Über Peter Hacks reden, heißt aber auch zehn Jahre nach dessen Tod zwangsläufig, über mehr zu reden als über den aktuellen Füllpegel der Archive.

Hacks’ Positionierung als »sozialistischer Klassiker« ist aufs Engste verwoben mit den politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Heinz Hamm, Goethe-Forscher aus Halle, stellte gleich eingangs klar, dass Hacks’ Klassikbegriff keine Epoche bezeichnet, sondern eine Methode. Das von Hacks über Jahrzehnte entwickelte und verfochtene Klassikkonzept, so Hamm, gründete auf politischen Überzeugungen. In den frühen sechziger Jahren hielt Hacks den Sozialismus in der DDR für stabil genug, um die Künste von ihrer Verpflichtung zu Agitation und Propaganda zu entlasten. Er sprach vom Erreichen einer »klassischen Lage«.

Sein Gewährsmann für deren Gegebenheit war Walter Ulbricht, dem der Dichter in seinem Stabilitätsmodell die Rolle der Staatsvernunft zugeordnet hatte, oder anders: die Rolle des übergeordneten Vermittlers zwischen der intellektuellen Klasse und der ihr gegenüberstehenden Klasse der Parteifunktionäre. Um höchstmögliche Produktivität zu erreichen, gleichzeitig aber zu verhindern, dass der Sozialismus in liberale Konkurrenzökonomie zurückfällt, war der Antagonismus zwischen Wirtschaftslenkern und Parteiapparat für Hacks ebenso unerlässlich wie die übergeordnete Instanz. Ulbricht erfüllte für Hacks die gleichsam absolutistische Funktion, das Spannungsfeld zwischen Leistungsdenken und emanzipatorischem Anspruch im Gleichgewicht zu halten.

Die Idealisierung Ulbrichts erklärt, warum Hacks über die Absetzung seines Stücks »Die Sorgen und die Macht« 1963 beinahe achselzuckend hinwegging. Als Gewährleister jener Kunst, die der Dichter zu schaffen gedachte, war Ulbricht, selbst wenn er hier als Zensor ins Bild trat, zu bedeutsam. Hacks dachte nicht daran, sich von ihm abzuwenden. Als Katastrophe betrachtete er später den »Ulbricht-Mord«: die Installation Honeckers als dessen Nachfolger.

Peter Hacks war 1955 aus München nach Ost-Berlin übergesiedelt, weil er davon überzeugt war, nur im Sozialismus eine Kunst schaffen zu können, die seinem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Dass das eine autonome Kunst sein muss, die einem hohen Ideal verpflichtet ist, stand für ihn außer Frage. Die »Königsebene«, hielt Hamm auf der Tagung fest, interessierte den Dramatiker mehr als die »Bauernebene«. Die Konflikte, deren Austragen über Wohl und Wehe aller bestimmten, spielen sich nämlich nicht unter Arbeitern ab, sondern unter Entscheidern. Für den Etatisten Hacks war das selbstverständlich. Die Abkehr von Brecht und die entschiedene Ablehnung des Bitterfelder Wegs geht für Hacks einher mit dem Bekenntnis zur Klassik. Diesem Bekenntnis jedoch, merkte Heinz Hamm an, wohnt eine unbedingte »Verpflichtung zur Utopie« inne.

Ein Missverständnis wäre es, Hacks’ Orientierung an Shakespeare und Goethe (das waren seine Helden, während Schiller ihm als »Klassiker auf Abwegen«, Wieland als »Klassiker zweiter Ordnung« galt) als rückwärtsgewandt zu deuten. Nichts wollte der Antiquitätensammler Hacks weniger sein als »von gestern«. Sein erster Entwurf eines sozialistisch-klassischen Kunstkonzepts trägt den Titel »Versuch über das Theaterstück von morgen« (1960). »Das Morgen«, ist dort zu lesen, »übt größere Wirkung auf den Künstler als das Gestern, das doch die meisten Leute für das Heute halten.«

Zum Klassikbegriff hatte Hacks Jahre später, im April 1977, in seinem Eröffnungsreferat zu einem Akademiegespräch festgestellt: »Der Name in seiner genauen Bedeutung, man weiß das hoffentlich von mir, heißt auf Deutsch nichts anderes als erstklassig. [...] Das heißt, es ist nicht die fünfte, nicht die siebente, es ist die Klasse, die nicht festgestellt werden muss.« Was hier auf die Vollkommenheit der Form bezogen ist, wusste Heinz Hamm mit der zugrundeliegenden Haltung zu unterfüttern: Klassik, das bedeute bei Hacks die unbedingte Bejahung der menschlichen Möglichkeiten, das Bekenntnis zur Sinnhaftigkeit des Lebens und die Überzeugung, dass Fortschritt möglich sei.

In der künstlerischen Praxis schlägt sich dieses Konzept in der Auffassung nieder, dass Kunst ihre größte Wirkung immer dann erziele, wenn sie ihre Botschaften auf indirekte Weise vermittelt. Hacks, so Hamm, begriff Klassik »als eine Aufklärung, die es aushält, in Metaphern übersetzt zu werden«. Damit einher ging selbstredend die Ablehnung jener Didaktik in der Kunst, die DDR-Kulturpolitik allzu oft von den »Kulturschaffenden« einforderte.

Dem Klassikkonzept, das Peter Hacks in den sechziger Jahren entworfen hatte, kamen in den Siebzigern die Füße abhanden. Mit der Ablösung Ulbrichts durch Honecker, in dessen Politik Hacks »die Einheitssauce, die Schlamperei und den Vulgärmarxismus« witterte, war die »klassische Lage« nicht länger gegeben. Diese Zäsur rief beim Dichter gleichsam einen Rückzug nach oben hervor. Während DDR-Literaten wie Franz Fühmann, Günter de Bruyn, Christa Wolf zunehmend die Romantik als literarisches Feld entdeckten, bezog Hacks Heimstatt in der Höhe des Erhabenen. Mehr denn je wandte er sich dem späten Goethe zu, der sich seinerzeit mit einer nachrückenden Generation nach innen gewandter Literaten auseinandersetzen musste, den historischen Romantikern. Das damit einhergehende Gefühl des vereinsamenden Olympiers ist in Goethes Gesprächen mit Eckermann in einem Satz aufgefangen: »Meine Zeit rückt von mir ab.« Bei Hacks heißt das so: »Ich bin ein Dichter und kein Zeitgenosse.« Für ihn waren die Romantiker, alte wie neue, allesamt Frondeure und Agenten feindlicher Geheimdienste, die dem Niedergang des Fortschritts (bzw. dem Ende der DDR) in die Hände arbeiteten. Heinz Hamm zufolge erkannte Hacks im romantischen Wunschdenken seiner Zeit das »wütende, zornige Nichtbegriffenhaben« historischer Zusammenhänge: »Man strebt den reformierten Sozialismus an und endet im restaurierten Kapitalismus.«

Vollends entfremdete sich Peter Hacks von vielen seiner Künstlerkollegen infolge der Biermann-Affäre 1976. Die »Petitionisten«, die für Biermann Partei ergriffen, feindete er an. Sein eigenes, in der »Weltbühne« veröffentlichtes Pamphlet gegen Biermann und seine Unterstützer brachte ihm Ablehnung allerorten ein. Hacks, einstmals meistgespielter Dramatiker in beiden Deutschlands, verschwand fortan zusehends von den Bühnen hüben wie drüben. Der Dichter hatte das vorausgesehen. Und in Kauf genommen.

In der Auseinandersetzung mit der Romantik, insbesondere aber im gebrochenen Verhältnis zu Heiner Müller, »verlor die Klassik im Werk Peter Hacks’ ihre Unschuld«. So sagte es Jan Decker, einziger Schriftsteller auf dem Podium. Decker sprach über André Müller seniors »Gespräche mit Hacks 1963-2003« als »Reinszenierung von Johann Peter Eckermanns Gesprächen mit Goethe« - und zog erstaunliche Schlüsse. Ein »literaturstrategisches Werk« nennt er die polemisch überspitzten Gesprächsprotokolle, gar ein »Kriegstagebuch«. Heiner Müller nehme darin gleichsam die Rolle des Mephisto ein, während Hacks selbst als Faust inszeniert wird. Das Klassikkonzept, das sich hier niederschlägt, scheint ästhetische Fragestellungen nurmehr als Schutzschilde in politischen Schützengräben zu verwenden. Decker nennt es ein Konzept, »das für den Kampfeinsatz entworfen wurde«.

Verhältnismäßig gefasst nahmen die Hacksianer im Publikum Jan Deckers Tabubruch auf, das Bild des »sozialistischen Klassikers« als Ergebnis einer »Selbstinszenierung« darzustellen, die auf Strategien popkulturell geprägter Literaten der Gegenwart vorausweise. Sieht man davon ab, dass Hacks sein Image gewiss nicht vordergründig aus kommerzieller Absicht aufbaute, spricht einiges für diese These. Zu jedweder Selbstinszenierung gehört die Ausprägung eines »Alleinstellungsmerkmals«. Peter Hacks, Erfinder und einziger Vertreter der »sozialistischen Klassik«, ist eine solche solitäre Stellung nicht abzusprechen. Kehrseite der Alleinstellung: Er stand recht bald ziemlich alleine da.

Die Unbeirrbarkeit, mit der Hacks übers Ende »seiner« DDR hinweg Stücke und Gedichte, Essays und Notizen verfasste, die stilistisch ihresgleichen suchen und von einem Witz zeugen, der noch in tiefster Bitterkeit aufblitzt wie von Zeus geschleudert, nimmt bis heute für den Künstler und Menschen Peter Hacks ein. Jan Decker ließ seine Gedanken in den versöhnlichen Satz münden, der Dichter habe Literatur geschrieben, »die ihre eigene Inszenierung überragt«.

Ein Kern der Hacks’schen Ästhetik und also auch seines Klassikkonzepts spricht die Kunst von der Verpflichtung frei, die Wirklichkeit darzustellen. Zweck der Kunst sei vielmehr die Darstellung einer Haltung, die man gegenüber der Wirklichkeit einnehmen kann. Darin, bekannte Jan Decker, liege für ihn die Bedeutung, die Peter Hacks auch und gerade heute für Nachwuchsautoren hat (oder haben könnte): Er vermittelt ihnen die Wichtigkeit einer Haltung zur Welt, in der sie leben und schreiben.

Hacks zu lesen, um sich an seinem Werk zu erfreuen und an seiner Haltung zu reiben - es kann wappnen für die Konflikte der Gegenwart. Die seit einigen Jahren verschiedentlich geäußerte Erwartung einer Hacks-Renaissance, die ja vornehmlich an den Theatern sich abzuspielen hätte, dürfte indessen weiter ins Leere laufen. Die »Lage« ist nicht danach.

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