nd-aktuell.de / 13.01.2006 / Wissen
Mich kriegt hier keiner raus!
Angehende Lehrer kämpfen in Berlin in den neuen Studiengängen mit den alten Problemen
Kerstin Petrat
Vor gut zwei Jahren reformierte das Land Berlin die Lehrerausbildung. Das Land braucht neue und gut ausgebildete Pädagogen. Doch in der Praxis kämpfen die Lehrerstudenten mit den alten Problemen. Beispiel Humboldt-Universität.
Eigentlich haben die 80 jungen Leute, die im Oktober das Zweitfach Grundschulpädagogik an der Berliner Humboldt-Universität (HU) begonnen haben, eine gute Wahl getroffen: Die Länder Berlin und Brandenburg brauchen in den kommenden Jahren zahlreiche neue Pädagogen, da viele von ihnen in Rente gehen. Ein Drittel der Lehrer in der Bundeshauptstadt verabschiedet sich bis 2016 in den Ruhestand. Bis dahin will Bildungssenator Klaus Böger etwa 9000 Lehrkräfte neu einstellen.
Der Weg dorthin erfordert Muße und Durchhaltevermögen. In einem nachgebauten Klassenraum dürfen sich aus brandschutztechnischen Gründen eigentlich nur 35 Leute aufhalten. Annähernd 50 Erstsemester kümmert das nicht, denn sie wollen etwas lernen und brauchen den Teilnahme-Schein. Wer zu spät kommt, sitzt auf dem Boden, auf der Fensterbank oder auf Möbeln. Gruppen mit zehn Studenten erarbeiten Texte, die in Dreiergruppen sinnvoll wären. In einem überbelegten Blockseminar, teilte die verzweifelte Dozentin kurzentschlossen die Gruppe in zwei Kleingruppen. Im Klartext heißt das, dass jeder Student nur einen halben Kurs belegen durfte, dafür aber einen von guter Qualität. Eine Studentin, die bereits in einer anderen Stadt studiert hat, findet keinen Professor, der ihre Scheine anerkennen kann - denn keiner ist hierfür zuständig.
Professorenstellen bleiben unbesetzt
Weil Professoren fehlen, gibt es bei den Prüfungen Engpässe, bemängelt Laura Goerke von der Fachschaft der Grundschulpädagogen. Selbst die Teilnahme an Seminaren wird den Studenten schwer gemacht: »Mich kriegt hier keiner raus!«, sagt sie kämpferisch. Sie hat erlebt, wie Dozenten Studenten aus Seminaren rauswarfen und diese dadurch den für den Abschluss notwendigen Schein nicht in der Regelstudienzeit erwerben konnten. Goerke und viele andere Studierende streben das alte Staatsexamen an, 2004 wurde der Studiengang reformiert, die neuen Studienabschlüsse heißen jetzt Bachelor und Master (siehe Kasten). Im Gegensatz zum alten Studiengang wird den Bachelor-Studenten garantiert, dass sie in sechs Semestern fertig sind. Sie müssen deshalb in Seminaren aufgenommen werden.
Neben zu wenig Personal gibt es auch mehr Studenten als erwartet. 70 Erstsemester galten als festgelegte Immatrikulationszahl, 80 sind es schließlich geworden. »Wir werden dazu gedrängt, Langzeitstudenten zu werden, da sich die Seminare überschneiden, die Kurse überfüllt sind und nicht genügend angeboten werden«, befürchtet So-mie Kim aus dem ersten Semester. Kurse aus dem Kernfach und der Grundschulpädagogik finden teilweise zeitgleich und ohne Alternative statt. Ihre Kommilitonin Annika Schünemann nimmt die übervollen Seminare mit Humor: »Man sitzt im Seminar auf dem Boden, der Fensterbank oder teilt sich einen Stuhl. Gruppenarbeit ist mit so vielen schwer möglich, und man konzentriert sich mehr auf die schmerzenden Körperstellen als auf den Inhalt.«
Die zehn zusätzlichen Studenten erklärt die Pressestelle der Uni mit »Quereinsteigern aus anderen Studiengängen beziehungsweise Hochschulen«. Offenbar wurden diese zehn Studenten nicht von vornherein mit einkalkuliert, denn dem Ausbilderteam der Grundschulpädagogen wurden nur 70 Erstsemester angekündigt. »Ursprünglich standen für die Ausbildung der Lehrkräfte im Bereich Grundschulpädagogik vier Professorenstellen zur Verfügung. Nun wurde eine Stelle davon gestrichen, und zwei dieser Stellen sind nicht besetzt«, erklärt Professor Renate Valtin. Sie ist die übrig gebliebene Professorin im Bereich Grundschulpädagogik. 2007 geht auch sie in Rente, ihre Stelle wird dann gestrichen. Den Bereich Sachunterricht leitet Professor Karla Horstmann-Hegel, die Bereiche Mathematik und Deutsch sind unbesetzt. »Gerade die so wichtige Professorenstelle für den Lernbereich Deutsch soll drei einhalb Jahre lang nicht neu besetzt werden«, klagt Valtin. »Über zehn Jahre lang hatten wir auch keine Professur im Lernbereich Mathematik, sie soll aber nächstes Jahr besetzt werden.«
Uni sieht Schuld beim Berliner Senat
Nach den Plänen der Universitätsleitung soll von 2007 an die Professur für den Sachunterricht ein Jahr lang unbesetzt bleiben. »Wir nehmen aufgrund des Personalmangels jährlich gerade einmal zirka 65 Studierende für den neuen Bachelor-Studiengang Grundschulpädagogik auf. Früher konnten wir pro Jahr 240 Studierenden ein Studium der Grundschulpädagogik ermöglichen. Die Ausbildungschancen vieler junger Leute mit dem Berufswunsch Lehrer werden dadurch gefährdet«, sagt Valtin. Der Bachelor-Lehrgang erfordert deutlich mehr Lehrangebote als der alte Studiengang. »Sprach- und Lesekompetenz sind wichtige Schlüsselqualifikationen, welche die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen«, argumentiert Valtin. »Auf den Anfang kommt es an - diese Erkenntnis haben uns die so erfolgreichen skandinavischen Länder voraus. Gerade in der Grundschule brauchen wir die am besten ausgebildeten Lehrkräfte.«
Wer ist für die Probleme verantwortlich? Die Senatsverwaltung für Wissenschaft verweist an die HU. Diese bekommt, wie Technische und Freie Universität, die im Hochschulvertrag langfristig zugesicherten Gelder vom Land Berlin und muss selbst entscheiden, wie sie die Mittel auf die einzelnen Studiengänge verteilt. Die Universitäten hätten sich verpflichtet, ab 2006 für 850 Absolventen im Lehramt zu sorgen. »Notfalls sollen es auch mehr sein, wenn der Bedarf an den Berliner Schulen steigt«, erläutert Brigitte Reich, Referentin von Wissenschaftssenator Thomas Flierl (Linkspartei). »Da die Universitäten ihre Strukturplanungen ohne unsere Eingriffe, die auch dem Leitbild einer autonomen Hochschule nicht mehr entsprechen, entwickelt haben, ist es Aufgabe der Hochschulen, ihre Lehre so zu organisieren und anzubieten, dass ein Studium möglich wird. Das kann unter Umständen auch durch Lehraufträge und Gastprofessuren erfolgen.«
Die Pressesprecherin der Humboldt-Universität, Angela Bittner, sieht die Lage der Grundschulpädagogik dagegen weniger dramatisch als die Studenten. Bittner zufolge wurden dem Institut für Erziehungswissenschaften, zu dem die Grundschulpädagogik gehört, in der aktuellen Kürzungsrunde sechs Professuren gekürzt. Nur eine dieser Stellen sei in der Grundschulpädagogik gestrichen worden. Daneben gebe es Professoren, die in Rente gehen, und deren Lehrstühle »nicht sofort wieder besetzt werden können«. Dies sei jedoch mit keinen Nachteilen verbunden, »da gleich mehrere Lehrende freiwillig Zusatzkurse anbieten«. »Alle Kürzungen sind eine Folge der rigiden Sparmaßnahmen, die der HU von Seiten des Senats aufgezwungen wurden«, wirft Bittner den Ball zurück an den Senat. Das führe allerdings zu keinerlei Nachteilen in der Lehre, »da die Ausfälle vollständig über Lehraufträge bzw. Vertretungen abgedeckt werden«. Zum 1. April werde die Professur für Mathematik und Allgemeine Grundschulpädagogik wieder besetzt, verspricht Bittner. Ein schwacher Trost für die Not leidenden Studierenden: Bislang waren für diesen Bereich zwei Professuren vorgesehen.
Berliner Lehrer
Im neuen Bachelor-Studiengang studieren die künftigen Lehrer in Berlin sechs Semester lang ein Kernfach, in dem sie bis zur zehnten Klasse unterrichten dürfen und im Zweitfach Grundschulpädagogik. Im Kernfach erhalten sie Fachwissen sowie Fachdidaktik. Dazu gibt es Kurse in Erziehungswissenschaften. Nach dem Bachelor-Abschluss folgt ein Master-Studiengang, der zum Lehrerberuf berechtigt. 2007 sollen die ersten Studierenden den Master absolvieren dürfen. Der genaue Inhalt und ob er zulassungsbeschränkt ist, steht noch nicht fest.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/83999.mich-kriegt-hier-keiner-raus.html