Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

ig»? Ein Stück vom indischen Kuchen

Bei der ersten Asien-Tour des Bundesaußenministers geht es nicht nur um Computerspezialisten

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Hilmar König, Delhi

Bundesaußenminister Joschka Fischer traf am Mittwoch zu einem zweitägigen Indien-Besuch in Bangalore ein. Mit seiner ersten Reise in ein asiatisches Land unterstreicht er den wachsenden politischen und wirtschaftlichen Stellenwert Indiens in der internationalen Arena.

Ein heißer Empfang war dem Gast gewiss, denn in Indien ist jetzt Hochsommer. Etliche Landesteile, allerdings gehören der Unionsstaat Kar nataka und seine Hauptstadt Bangalore nicht dazu, leiden unter extremer Trockenheit und deren dramatischen Folgen. Fischers Visite gliedert sich in drei Teile: politische Gespräche, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit sowie ein paar Tupfer Kultur und Folklore des multiethnischen Gastlandes. Deshalb ging es gestern vom Flughafen direkt zum hinduistischen Nandi Keswara Tempel und anschließend zu einem Projekt für Seidenspinnerinnen, das der Förderung von Frauen dient.

Am Nachmittag besuchte die deutsche Delegation den International Tech Park von Bangalore, eine Wiege indischer Software-Spitzentechnologie. Bei SAP Labs India Pvt. Ltd. unterhielt sich Fischer mit jungen indischen IT-Spezialisten - vor dem Hintergrund der «Greencard»-Debatte zu Hause gewiss eine interessante Erfahrung für den Minister. Ebenso das folgende Treffen mit «Software-Kaiser» Azim Premji, der zu den reichsten Unter nehmern der Welt zählt und Chef der außerordentlich erfolgreichen WIPRO Cor poration ist. Die Fischer begleitende Gruppe von Wissenschaftlern, Industriellen und Geschäftsleuten nahm derweil Kontakte zu den jeweiligen Experten Kar natakas auf und lotete die Chancen intensiverer Kooperation aus. Beim Besuch im Bangalore-Forschungszentrum von

Daimler Chrysler erhielten die Gäste einen Eindruck vom Potenzial der technischen Intelligenz, das sich deutschen Firmen in Indiens Software-Metropole bietet.

Heute stehen dann die «großen Hausnummern» in Delhi auf dem Programm: Visite beim Staatspräsidenten, beim Premierminister, intensive Beratungen mit dem indischen Außenminister sowie Ministern anderer Ressorts und eine Begegnung mit Oppositionsführerin Sonia Gandhi. Seit Jahrzehnten sind die deutsch-indischen Beziehungen ungetrübt - das Kapitel DDR eingeschlossen, wenn auch inzwischen von beiden Seiten totgeschwiegen. Das Verhältnis beruht auf gleichen demokratischen Grundwerten und ist gekennzeichnet durch ein Netzwerk der Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft, Handel, Wissenschaft, Technik und Kultur. Im September werden mehrere Monate dauernde Deutsche Festspiele in Indien stattfinden.

Ein kürzlich eingeleiteter «strategischer Dialog», der eventuell am Ende der Beratungen in Delhi in einem von beiden Seiten unterzeichneten Dokument Niederschlag findet, umfasst bilaterale, regionale sowie global bedeutsame Fragen, etwa die Reform des UNO-Systems, nukleare Abrüstung, Umweltschutz, Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des Drogenhandels. Dabei bestehen nicht zu allen Themen übereinstimmende Auffassungen, besonders im Bereich Nuklearpolitik, Sicherheit und Abrüstung.

Obwohl Deutschland und Indien eine kernwaffenfreie Welt gleichermaßen als Idealziel betrachten, gehen ihre Ansichten über die Wege dorthin doch weit auseinander. Deutschland fühlt sich unter dem atomaren Schirm der NATO sicher und will diesen so erhalten. Indien fühlt sich erst nach den Atomtests vom Mai 1998 sicher und ist überzeugt davon, mit einem «minimalen nuklearen Abschreckungspotenzial» seine Interessen wahren zu können. Die Deutschen möchten - gemeinsam mit den USA und der EU - Indien (und Pakistan) in das internationale Regime der Teststopp- und Kernwaffensperrverträge einbinden. Bislang ließ sich Delhi nicht von der atlantischen Idee überzeugen, mit einer Unterzeichnung dieser Abkommen wäre Indiens Sicher heitsbedürfnissen am besten entsprochen. Auch Fischer wird in dieser Frage keinen Durchbruch schaffen.

Obwohl Berlin Indien als stabilisierendes Element im Ringen um Entspannung und Frieden in Südasien ansieht, kann es doch nicht übersehen, dass die Wieder aufnähme des durch die Kargil-Krise im Sommer 1999 unterbrochenen Friedensprozesses mit Pakistan von Delhi gegenwärtig rigoros abgelehnt wird. Es fordert von Islamabad, erst den «grenzüber schreitenden Terrorismus» in Kaschmir einzustellen. Deutschland hingegen befürwortet den Dialog, der für die Lösung des Kaschmir-Konflikts unabdingbar sei.

Die politische Bedeutung des Fischer Besuchs liegt auf der Hand: Ende Juni findet in Portugal der erste Indien-EU-Gipfel statt. Indien hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges dem Westen geöffnet. Clintons spektakuläre Visite im April trug dem demonstrativ Rechnung und leitete eine Neuorientierung Washingtons in seiner Südasien-Strategie ein. In diesem ver heißungsvollen Klima will Deutschland nicht ins Hintertreffen geraten. Schließlich geht es auch um den riesigen indischen Markt mit einer mindestens 150 Millionen Menschen starken, kaufkräftigen Mittelschicht. Die kapitalistischen Wirtschaftsreformen haben die Bedingungen für das Auslandskapital bereits beträchtlich verbessert. Deutschland möchte sich ein ordentliches Stück vom indischen Kuchen sichern. Auch das gehört zu Fischers Auftrag.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal