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  • Politik
  • Zum Tode von Andrzej Szczypiorski

Sehnsucht Europa

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

War vielleicht eine Rede von ihm zur Eröffnung der diesjährigen Frankfurter Buchmesse geplant? In jedem Falle hätte das Messethema Polen Andrzej Szypiorski in diverse Fernseh- Talkrunden, an Rednerpulte und mit Artikeln wie Interviews in mehrere Zeitungen gebracht. Denn für die deutschen Medien war er der «Pole vom Dienst». Dabei hat dieser Autor nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihm solch eine Rolle eigentlich zu klein war. Er wollte ein europäischer Schriftsteller sein. Und auch für seine Heimat Polen erstrebte er den Weg nach Europa, der, wie er meinte, nur über Deutschland führen könne. Deshalb sein hiesiges Engagement.

Andrzej Szczypiorski ist am Dienstag in Warschau gestorben - an einer Lungenentzündung. Mit 72 Jahren - ein Schlag für alle, die ihn kannten und die noch viel von ihm erwartet haben. Der Roman «Feuerspiele», der im August erscheinen soll, wird nun sein letzter sein. «Das weise Alterswerk eines großen europäischen Homme de Lettres, das die großen Themen des letzten Jahrhunderts noch einmal aufgreift: Verfolgung und Mord an ethnischen Gruppen, Krieg gegen die eigenen Nachbarn, Hass und Liebe, Gewissenlosigkeit und Gerechtigkeit, Verachtung und Mitgefühl - und >die Unfähigkeit zu trauern<», so heißt es aus dem Diogenes Verlag Zürich, wo auch Szczypiorskis frühere Bücher erschienen: Essays, Er Zählungen, Romane wie «Tag und Nacht», «Der Teufel im Graben», «Den Schatten fangen», «Selbstporträt mit Frau». Szczypiorskis größter literarischer Erfolg war der Roman «Die schöne Frau Seidenman», in 19 Sprachen übersetzt und demnächst verfilmt. Er handelt von einer blonden, blauäugigen Jüdin und Arztwitwe, die unter einem polnischen Namen aus dem Warschauer Ghetto entkam und von einem jüdischen Mitbürger denunziert wurde. Andrzej Szczypiorski, am 3. Februar 1928 in Warschau geboren, war 1944 am Warschauer Aufstand beteiligt und wurde im KZ Sachsenhausen interniert. Nach dem Krieg wurde er Journalist, war sogar eine Zeit lang im diplomatischen Dienst. Doch immer mehr wuchs die Distanz zu den Mächtigen in Polen, zumal auch sein erster Roman «Eine Messe für die Stadt Arras», 1968 entstanden, in Polen drei Jahre lang nicht erscheinen durfte. Die DDR-Ausgabe lag noch viel länger auf Eis. Ab Mitte der 70er Jahre hat Szczypiorski nur noch im Untergrund oder in Exilzeitschriften veröffentlicht. Als Mitorganisator des unabhängigen Kongresses der polnischen Kultur wurde er 1981 mit Ver hängung des Kriegsrechts sogar für ein halbes Jahr interniert. Später saß er für Solidarnosc im Senat.

Ein Dissident, der nie verbissen war. Ein gläubiger Katholik mit demokratisch-liberalen Bestrebungen. Er war leise und unbeugsam in seinen Ansichten. Freilich, was einst widerständisch war, passte jetzt für die deutschen Medien ins Bild. Am 4. August sollte Andrzej Szczypiorski auf der Expo 2000 in Hannover eine Rede halten. Das wird nun nicht mehr sein. Ein begabter Schriftsteller ist tot. Ein Mensch, der einmalig war und den selbst die Nächsten nie ganz kennen konnten. Mit jedem Menschen stirbt doch eine ganze Welt.

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