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  • Politik
  • Heute wäre der Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Wolfgang Heinz 100 Jahr alt

Urgestein einer seltenen Art

  • Lesedauer: 6 Min.

Von Klaus Pfützner

Für die einen war er der Chef, für die anderen der sehr verehrte Kollege. Einige nannten ihn liebevoll den «Alten», für viele war er der Präsident des Theaterverbandes, und seine Studenten kannten keinen besseren Pädagogen. Kommunist war er sowieso und immer. Die meisten erlebten ihn aber wohl als Nathan, einige -zigtausend Zuschauer dürften es gewesen sein. Heute jährt sich zum 100. Male der Geburtstag von Wolfgang Heinz.

Aus dem Stapel von Papier, der vor mir liegt, springen die großen Worte, die über ihn geschrieben wurden, und wollen in diesen Text. Aber es drängen sich auch die Anekdoten vor, die heiteren und sinnreichen, die erzählt sein wollen. Und die Bilder der Erinnerung. Was war das für ein Teterew, den er in Gorkis «Kleinbürgern» spielte, dieses Bündel aus Versoffenheit, von vulkanischer Zerstörungswut und zartem, kleinbürgerlichem Selbstmitleid! Oder sein Mamlock in Konrad Wolfs Film «Professor Mamlock»! Oder Heinz beim Vortrag von Homers «Odyssee» auf der Bühne der Kammerspiele, wo er, schon weit über 80, uns ganz jung erschien. Ohne Arbeit ging nichts bei ihm bis ins hohe Alter. Die Warnschilder der Ärzte ignorierte er. Ich weiß nicht, wie viele Verszeilen des Homer er auswendig lernte, aber es war eine Riesenarbeit. Selbst im Auto auf der Fahrt zu einem Kolloquium zog er das Manuskript hervor und prägte sich Zeile für Zeile ein.

Oder sein Nathan. Ja, es war ein großer Nathan, wie er auf der deutschen Bühne so wohl noch nicht gestanden hatte, weil er eine ganz und gar zeitgenössische Gestalt war. Seine versöhnende Toleranz besaß angesichts der Mauer und der zunehmenden Schärfe des Kalten Krieges sowohl politische Brisanz wie auch Mär chenhaft-Utopisches. Heinz zeigte: Toleranz ist ein Gut, das erstritten werden muss, friedfertig. Sein Handeln war gewiss «weise», aber er spielte dies als eine Fähigkeit, die erworben werden kann. Toleranz als Kampffeld, Weisheit als Er lernbares. An diesem spannenden Prozess wurden wir, die Zuschauer, in dieser wundervollen Inszenierung von Friedo Solter unmittelbar beteiligt und entdeck ten mit Vergnügen ein Stück von uns selbst und unserer Zeit.

Dass die Leute «ein wenig klüger nach Hause gehen», war sein Programm, Neugier auf das Leben außerhalb des Theaters ein Lebensbedürfnis. Denken bereitete ihm Genuss. «Er hat uns selbständig gemacht», sagte sein Kollege Dieter Mann anlässlich seines Todes 1984, und ein anderer Kollege ergänzte, Heinz habe uns denken gelehrt. Er wollte - und da war er von bohrendem Wissensdurst - den Dingen auf den Grund gehen, und wer mit ihm arbeitete, musste mit ihm «auf den Grund». Die «Dinge» - das waren ein Abschnitt in einem Vortrag, der ihm nicht «griffig genug» erschien, ein Satz im Stücktext, vielleicht nur ein schlappes Wort auf der Probe, schnell hingesprochen. «Neeiin!» höre ich ihn brüllen, und ein Bär springt auf die Bühne, legt seine Tatzen um Inge Kellers schmale Schultern und flötet begütigend: «Warum wohl, meine Liebe, hat der Dichter dieses Wort geschrieben, wenn nicht...»

Wer mit ihm «auf den Grund» gehen musste, ging auch mal in die Knie. Das waren nicht selten die besten des Deutschen Theaters: Herwart Grosse, Lisa Macheiner, Friedrich Richter, Ernst Kahler, Horst Drinda, Inge Keller oder die Jüngeren Jutta Wachowiak, Dietrich Kör ner, Gudrun Ritter, Dieter Franke und manche andere. Als ich ihn einmal fragte, wie der Theaterverband die ganz Jungen fördern und ihnen den Weg in die Praxis ebnen könne, tönte es in seinem wohllautigen Wienerisch zurück. «Ebnen? Über haupt nicht! Hohe Anforderungen muss man stellen, mein Lieber!»

Toleranz? Heinz konnte unausstehlich sein, wenn es um die Wahrheit ging, die künstlerische, die menschlich-psychologische oder die gesellschaftliche. Gleichzeitig war er von großzügigster, uneigennütziger Toleranz. Wie sonst hätte das Deutsche Theater in den 60er Jahren unter seiner Leitung so unterschiedliche, teils gegensätzliche künstlerische Konzepte mit Benno Besson, Adolf Dresen, Friedo Solter beheimaten können? Dazu sein eigenes Programm mit Gorkis «Feinde», Shaws «Haus Herzenstod», Millers «Zwischenfall in Vichy» oder Kiltys «Geliebter Lügner» mit dem unvergessenen Herwart Grosse und mit Erika Pelikowsky, seiner Frau. Ich erinnere mich einer Diskussion über Goethes «Faust 1» im Deutschen Theater, wo er mit der Kraft seiner Über zeugung, die faszinierte, seine Arbeit und die seines Kollegen Dresen gegen enge kulturpolitische Sicht verteidigte. Ich er lebte ihn auf einer Verbandsdiskussion über Heiner Müllers Inszenierung von «Macbeth» an der Volksbühne, die offiziell sehr umstritten und Heinzens Theater ästhetik nun gar nicht war. Da bezeugte er Respekt vor dieser Arbeit. Er merkte an, wo für ihn künstlerisch ungelöste Fragen sind und votierte damit erneut für eine Diskussionskultur, in der Sachlichkeit und Differenzierung, nicht das Normativ-Kulturpolitische den Stil bestimmen.

Urgestein dieser Art entsteht, das weiß die Geologie, zwischen Feuer und Wasser.

Foto: Dieter Andree

Heinz war eine seltene Kämpfernatur aus Güte und Zorn, Heiterkeit und Ernst, Liebe und Hass - und dies immer aus einem Gerechtigkeitssinn heraus, der gewiss von seiner jüdischen Herkunft (die ihm nichts bedeutete), mehr noch von seinem gesellschaftlichen Ideal geprägt war. Ja, er konnte hassen, das Verbrechen des Krieges, die faschistischen Mörder und jene stille oder offene Gewalt des Kapitals, die menschliche Beziehungen deformierte. Seit 1930 war er Kommunist, da war er Schauspieler am Preußischen Staatsschauspiel am Gendarmenmarkt Berlin und setzte sich als Gewerkschafter für die Belange seiner Kollegen ein. 1933 emigrierte er in die Schweiz und bildete mit Wolfgang Langhoff, Therese Giehse, Leopold Lindtberg, Robert Trösch, Bernhard Wicki, Maria Becker, Teo Otto und anderen Kollegen die Gruppe deutscher Emigranten am Zürcher Schauspielhaus. In den Jahren faschistischer Herrschaft war es ein deutliches Bekenntnis zur Humanität und zum Menschen «als dem Maß der neuen Gesellschaft», wie Prof. Hans Mayer rückblickend schrieb. 1946 ging Heinz ans Wiener Volkstheater und gründete 1948 im Zusammenwirken mit der KP Österreichs das Neue Theater in der Skala. Es spielte für die Arbeiter der Vorstädte und wurde nach siebenjähriger sehr erfolgreicher Arbeit von den Wiener Behörden zugrunde gerichtet. Seit 1956 spielte und inszenierte er am Deutschen Theater in Berlin, 1963 wurde er dessen Intendant.

Das waren Jahre konfliktvoller politischer Erfahrungen, in denen sich seine Einsicht festigte, dass eine Alternative zur Kapitalgesellschaft nur vom Sozialismus ausgehen kann. Von hier bezog er - wie Antäus aus der Berührung mit der Erde - seine Kraft, seine Integrität und Überzeugungsfähigkeit. Vielleicht beantwortet das auch die Frage, warum Wolfgang Heinz von so unverrückbarem Vertrauen in den Sozialismus und die Unfehlbarkeit der Partei war und Fehlentwicklungen in der DDR mit seinem begütigenden «Ach, geeeh. Schau, die Genossen wissen viel besser Bescheid über Ökonomie und Politik als wir» abtat.

Seine Stimme wurde auf den großen Veranstaltungen gern gehört, er wurde geehrt, seine Meinung aber, die auf produktive Änderungen im Theater der DDR zielte, weitgehend ignoriert. Das hat ihn sehr getroffen, aber oft nur zu einem Achselzucken oder einer Erklärung veranlasst, in der sich die Sanftheit und Schlitzohrigkeit eines Nathan die Hand reichten: «Nichts ist vollkommen, mein Lieber, auch wir nicht. Vielleicht in hundert mal hundert mal hundert Jahren!» Dann hat er weitergearbeitet.

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