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Filme

im Buch List und Tücke

  • Lesedauer: 3 Min.

Untermalt von pathetischer Musik wird ein Gebäudekomplex gezeigt. Mächtig steht er inmitten der Landschaft. Die Kamera erkundet ihn aus einer Vielzahl von Perspektiven. Auf der Tonspur brandet Beifall. Dann bemerkt man, dass dem gesamten Komplex Treppen fehlen. Er ist unbewohnbar. Schnitt. Inmitten einer anderen Landschaft, fast surreal, steht ein Komplex von Treppen. Jetzt lacht das Publikum. Der bulgarische Film «Obsteitie» (Wohnheim; 1989) dauert nur elf Minuten, doch prägnanter kann man die Defizite sozialistischer Planwirtschaft kaum zeigen.

Im Frühjahr 1995 veranstaltete das Stuttgarter «Haus des Dokumentarfilms» die Tagung «Die subversive Kamera» konzipiert und moderiert von Hans-Joachim Schlegel. Thema waren die Möglichkeiten und Strategien eines kritischen, subversiven Dokumentarismus unter den Bedingungen staatlicher Zensur. Mit einiger Verspätung ist jetzt der höchst lesenswerte Tagungsband erschienen, der materialreich und informativ die kulturelle Vielfalt des bloß aus westlicher Perspektive einheitlichen «Ostblocks» dokumentiert und einen Überblick über unterschiedliche, historisch, ästhetisch wie politisch differenzierte Strategien einer subversiven dokumentarischen Praxis bietet. Die metaphorische Rede von der «subversiven Kamera» die man ja auch im Sinne des späten Kracauer («Die Errettung der äußeren Wirklichkeit») phänomenologisch verstehen kann, soll dabei eine reflexive Offenheit beim Verständnis für die unterschiedlichen sozio-politischen Bedingungen garantieren, auf die die Filmemacher reagieren mussten. Während beispielsweise in Polen bereits Ende der fünfziger Jahre radikal kritische Filme entstehen konnten, bedurfte es in der CSSR der Aufbruchstimmung des «Prager Frühlings» Verglichen mit der (relativen) Liberalität in Ungarn und Jugoslawien, mussten die Filmemacher in den baltischen Staaten und in Bulgarien subtilere Formen des Widerstands entwickeln. Doch was meint Widerstand, Subversion in diesem Zusammenhang? Wie die Satire bedarf die Subversion einer Norm auf Seiten der «Macht» an deren Verletzung oder Überschreitung sie sich abarbeiten kann. «Macht» und «Subversion» bleiben letztlich aufeinander bezogen, so scheint es naiv, von einer «Ventilfunktion» künstlerischen Widerstandes oder gar vom exportfähigen Legitimationsgut fürs westliche Ausland zu sprechen. Es geht vielmehr um ein permanentes Austesten der jeweiligen staatlichen Schmerzgrenze, manchmal sind es nur wenige Einstellungen, die einen Film subversiv werden lassen. Die Subversivität eines Films lässt sich überdies historisch nicht fixieren: Wenn ein Film zur Feier der 25-jährigen Anwesenheit der Roten Armee in Litauen mit Bildern eines traditionellen Sängerfestes endet, so ist dies ein unmissverständlicher Hinweis auf eine eigenständige kulturelle Tradition. Unter veränderten historischen Umständen wird die Apologie der Geschichte, der bäuerlichen Tradition, des Spirituellen, des Geistigen jedoch ins bloß Reaktionäre umschlagen.

Das äsopische Sprechen kennt notwendig viele Varianten: ein Film über eine Theaterinszenierung, dessen besondere Brisanz darin liegt, dass die Schauspieler Insassen eines Gefängnisses sind, obwohl es in Bulgarien offiziell keine Kriminalität gibt.

«Muzykanci» («Musikanten» 1960) von Kazimierz Karabasz zeigt die engagierten Proben des Blasorchesters der Straßenbahnen in Warschau, die in ihrer Freizeit aus rein selbstbezogener Vergnügungssucht, also weder für den Weltfrieden, noch zu Ehren des Genossen XY zusammen musizieren.

Trotzdem gibt es Grenzen der Subversion: Wenn ein CEuvre komplett von der Zensur beschlagnahmt wird, dann ist es gewissermaßen anerkannt kritisch, aber nicht länger subversiv. Die schwärmerische Verklärung von Regalfilmen als subversive Preziosen führt demnach in die Irre. Andererseits - dies sei Anhängern einseitiger, also verallgemeinernder Totalitarismus-Theorien versichert scheint die Haltung, aus der heraus subversive Filme entstehen, durchaus exportfähig zu sein: Zelimir Zilnik, der während der siebziger Jahre auf Grund des Arbeitsverbots in Jugoslawien kurzzeitig in der Bundesrepublik seinen Unterhalt verdienen musste, hat sich dort mit somnambuler Sicherheit filmisch radikal dem RAF-Terrorismus zugewandt - und wurde zur Strafe ausgewiesen. «Subversivität kann man nicht geographisch einengen und geographisch ghettoisieren» wird in dem Band zutreffend angemerkt.

U rieh Knest

Hans-Joachim Schiegel (Hg.): Die subversive Kamera. Zur anderen Realität in mittel- und osteuropäischen Dokumentarfilmen. Konstanz: UVK-Verlag 1999. 390 Seiten, brosch., 54 DM.

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