Vier Wochen lang, im Juni und Juli 1998, filmte Samir Nasr an einer Tankstelle in Ludwigshafen. Es waren die Tage der Fußball-Weltmeister Schaft, und jeder, der zum Einkaufen, Reden, Rumlungern hierher kam, hatte dazu etwas zu sagen. Der sportliche Wettstreit stiftete eine Gemeinschaft, ganz gleich, ob man die Daumen fürs deutsche oder ein anderes Team drückte.
Aber Nasr, der mit »Nachttanke« sein Diplom an der Film- und Fernsehakademie Baden-Württemberg vorlegt, nutzte den Hintergrund der WM für ein ganz anderes Thema. Der temporäre Gemeinschaftssinn diente ihm als Kontrapunkt und Folie für eine Studie über Vereinzelung, Kommunikationsarmut, latente Gewalt. Sein Ziel war, die »Stimmung im Lande am Ende der Ära Kohl« zu erkunden, Zufallsbegegnungen zu einem Gesellschaftsbild von soziologischer und politischer Relevanz zu verdichten. Als Leitmotiv wählte er dafür ein Shakespeare-Zitat: »Wer nicht bei Tage gehen darf, schleicht bei Nacht.« Nicht alles, was dann in anderthalb Stunden zu erleben ist, trägt dieses Credo; manches wirkt entbehrlich. Vieles aber hat durchaus Kraft und Sinn: Beispielsweise die Begegnungen mit drei tür kischstämmigen Jugendlichen, die zunächst mit einer Attitüde der Stärke und permanenten Gewaltbereitschaft vor die Kamera treten, später aber Einblicke in ihre Seele geben, von Drogenerfahrungen berichten und vom Balancieren am Abgrund zum Tod.
Tragikomische Züge weist ein Taxifahrer auf, der auf die Frage, wie sein Geschäft laufe, ein regelmäßiges Klagelied anstimmt. Ist der Mann ein lebendiges Beispiel für die oft geäußerte Meinung, die Deutschen seien wehleidig und bequem? - Oder doch auch nicht? Wer genau hinsieht (und die brillante Kamera Stefan Runges gibt dazu Gelegenheit), kann gelegentlich den Schalk in den Augen des jungen, dick liehen Chauffeurs aufblitzen sehen. Haben seine Auftritte vor der Kamera - wie die vieler anderer Protagonisten - nicht auch etwas mit Camouflage zu tun?
»Nachttanke« eröffnet jedenfalls ein weites Feld der Interpretation und Diskussion. Am wichtigsten aber ist vielleicht die Anregung zum Gespräch darüber, wie verschieden - aber immer irgendwie ver heerend - die Schwungkraft des Turbokapitalismus auf »kleine Leute« wirkt. Wie sie sich in der Gefahrenzone aus Angst, Unbehaustheit, Armut, Wurzellosigkeit, Neid und Zorn bewegen. Und ob die Zeiten günstig sind für so etwas wie Freundschaft, Solidarität, Hoffnung. ??
??? -herausragend, ?? - sehenswert, ? - annehmbar, ?- nicht zu empfehlen
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/863515.vom-schleichen-im-dunkeln.html