nd-aktuell.de / 08.08.2000 / Politik / Seite 5

Zu fünft im kleinen Fiat aus Lodz gekommen

Einige der Überlebenden kommen noch immer alljährlich nach Halberstadt, jeweils am Jahrestag der Befreiung des Lagers Anfang April. Mit der Visite erfüllten sie eine Art politisches Vermächtnis: «Sie wollen mit eigenen Augen sehen, dass so etwas in Deutschland nicht wieder passiert.» Die Besuche führten aber auch vor Augen, unter welch erbärmlichen Ver hältnissen viele der inzwischen über 70- Jährigen vor allem aus Osteuropa ihr Leben fristen, sagt Hinz. Er berichtet von fünf alten Männern aus Lodz, die Jahr für Jahr ein wenig Geld zusammensparen und sich in einen alten Polski Fiat zwängen, um an den Treffen teilnehmen zu können. Das Unverständnis, mit dem viele der Überlebenden die Entschädigungsdiskussion in Deutschland verfolgten, «hat uns sensibel gemacht».

Sensibel auch dafür, dass Zwangsarbeit nicht nur hinter dem Stacheldrahtzaun von Langenstein-Zwieberge stattfand. Im Stadtarchiv gingen zunehmend Anfragen von Menschen aus Osteuropa ein, die Bestätigungen dafür erbitten, dass sie nach Halberstadt zur Arbeit verpflichtet wur den. Ein Mitarbeiter des ehemaligen Press- und Stahlwerkes fand Arbeitsbücher polnischer Männer aus der Kriegszeit. Ein 73-jähriger Halberstädter erinnerte sich, dass die Bäcker der Stadt ab 1942 französische Verkäuferinnen beschäftigten. Auch die Straßenbahnschaffner seien aus Frankreich zwangsver pflichtet worden. Landbewohner aus dem Umland berichten über «Zuweisungen». Die «Verwobenheit von Zwangsarbeit und alltäglichem städtischem Leben» sei ein schwieriges und kaum erforschtes Thema, sagt Hinz. Fest stehe aber- «Es haben nicht nur die Konzerne profitiert.»

Im Beschlussantrag heißt es denn auch, es gelte, die «geschichtliche Verantwor tung für die Inanspruchnahme von Zwangsarbeit in der Zeit des Nationalsozialismus durch deutsche Betriebe (die großenteils nicht mehr existieren) auch in unserer Region sichtbar anzuerkennen». Nahezu einhellig und ohne Debatte entschieden die rund 40 Stadträte, eine Mark pro Bürger der Stadt bereitzustellen - insgesamt 43 000 Mark. Das Geld solle nicht in den bundesweiten Entschädigungsfonds eingezahlt, sondern nach dessen Kriterien über die Botschaften in osteuropäischen Ländern direkt an einige die Betroffenen weitergereicht werden, wobei die Kontakte des Fördervereins der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge genutzt werden sollen. Weit wird das Geld nicht reichen, wissen die Stadträte: «Das ist eine symbolische Summe», sagt SPD- Fraktionschefin Uta Anz. Tatsächlich hat der Gesamthaushalt Halberstadts ein Volumen von rund 100 Millionen Mark. Bei den Beträgen, die die Stadt freiwillig ver teilen kann, geht es allerdings um wesentlich geringere Summen: «Bei manchen Kulturvereinen», sagt Anz, «wird schon um 1000 Mark Zuschuss gerungen.»

Streit gab es um den Beschluss erst im Nachhinein. Ein 25-jähriger CDU-Abgeordneter, der als einziger Stadtrat gegen die Entscheidung votierte, erklärte anschließend in einem Interview, «in der jetzigen Haushaltslage der Stadt hätte man sich den Beschluss verkneifen können». Zudem sei es Zeit, einen «kleinen Schlussstrich zu ziehen». Prompt entspann sich in den Leserbriefspalten der Lokalzeitung eine heftige Debatte. Ein Leser schrieb, man dürfe «nicht kritiklos für Verbrechen der Generation vor uns zahlen», und mahnte zu verantwortungsvollem Umgang mit Steuergeldern. Andere sprachen von «erschreckend unbedarften Formulierungen». Im Nachhinein scheine es, als sei eine umfassendere Debatte notwendig gewesen, sagt PDS-Fraktionschefin Monika Schlüter. Es zeige sich, «wie sehr das Problem Vergangenheitsbewältigung in den zurückliegenden Jahren verdrängt wurde.» Forum-Politiker Hinz meint, der Stadtrat müsse auch «unabhängig von aktueller Volkes Meinung» die geschichtliche Verantwortung wahrnehmen dürfen.