nd-aktuell.de / 25.11.2000 / Politik / Seite 21

»Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen - weil wir es lieben«

Von Ernst Engelberg

Die Frage nach dem Verhältnis zur Nation ist weder überholt noch zweitrangig. Im Gegenteil, es kann sich folgenschwer auswirken, hier progressive Traditionen zu negieren; nationaler Nihilismus hilft den Rechten. Es gab und gibt da allerdings Besonderheiten in unserer Geschichte. Auf dem langen Wege der sich im Frühkapitalismus herausbildenden Nationalstaaten kamen beispielsweise Frankreich und England rascher zum Zuge, weil sie nicht, wie Deutschland, durch einen ausgeprägten Partikularismus gehemmt waren.

So entbrannte die Revolution von 1848 in Deutschland vorwiegend um die nationale Einheit, die die soziale und wirtschaftliche Weiterentwicklung fördern konnte. Gekämpft wurde darum, sie demokratisch von unten her zu erringen und zu gestalten. Noch erwiesen sich die Partikulargewalten als zu machtgestützt, die Revolution konnte ihr Ziel nicht erreichen, die Probleme blieben.

Für das partikularistische Deutschland wurde es immer dringender und drängender, sich einen historisch adäquaten Platz zu sichern. In den 50er und 60er Jahren des 19 Jahrhunderts konkurrier ten die beiden größten Partikularstaaten Österreich und Preußen um die Vorherr schaft, die Preußen schließlich 1866 militärisch errang. Es setzte seinen nationalen Einheitswillen dann in einem weiteren Kriege gegen Frankreich 1870/71 durch. Und die Linken? Die deutsche Sozialdemokratie war inzwischen - ebenfalls im Züge der kapitalistischen Industrialisierung - zu einer international beachteten politischen und sozialen Kraft herangewachsen, die eine demokratische Gestaltung des neu geschaffenen deutschen Reiches erstrebte. Eben das erschien den herrschenden gefährlich; deswegen bekämpften sie die Sozialdemokratie mit harten Repressionsmaßnahmen. Sie ver hängten das berüchtigte »Sozialistengesetz«, das vor allem progressive Arbeiter schmerzlich traf, die sie zudem als »vaterlandslose Gesellen« diffamierten, was sie nie waren. August Bebel sprach es offen im Deutschen Reichstag aus: »Wir sind Deutsche so gut wie Sie, und wir hängen an diesem Deutschland mit ebensoviel Liebe wie Sie.« Um die Zustände in diesem Deutschland gehe es. Damit bewegte er sich durchaus auf den schon von Marx und Engels vorgezeichneten Wegen. Nicht gegen die Nation wandten sie sich, sondern dagegen, dass der Nationalstaat von 1871 zu wenig mit der Demokratie ver bunden war.

Eine anrührende Episode mag erhellen, wie stark sich auch bei dem Emigranten Friedrich Engels das Gefühl für seine Heimat mit dem Schmerz über deren sozialen Zustand verband. Im Sommer 1893 war es, dass er sein Land besuchte und, von Jugenderinnerungen bewegt, angesichts der Türme des Kölner Doms mit den Tränen kämpfend ausrief: »Welch schönes Land, wenn man darin nur leben könnte!«

Zweifellos, nationale Gefühle konnten auch im Volk immer wieder ins Nationalistische und Chauvinistische perver tiert werden. Das zeigte sich deutlich im Jahre 1914, als Wilhelm II. das »Trugwort« - so Karl Liebknecht - aussprach: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, und mit dieser »Ver wirrphrase der heiligen Einigkeit aller Klassen« die Hirne umnebelte. Auch ein Karl Liebknecht beugte sich zunächst der »programmzerstörenden Fraktionsdisziplin«, ehe er, sie »zum Teufel jagend«, gegen die Kriegskredite stimmte. In einem »dialektischen Prozess, im nationalen Klassenkampf gegen den Krieg verwirk licht sich der internationale«, so seine Meinung im Mai 1916.

Auch Lenin, die führende Persönlichkeit der Oktoberrevolution, erkannte die historisch gewachsenen Nationen an und er wartete im Zuge der Entwicklung ihren künftigen Assimilationsprozess.

Davon war Deutschland weit entfernt, als der den Ersten Weltkrieg beendende Versailler Vertrag in der Folgezeit allen unguten Nationalismen und Chauvinismen Auftrieb gab. Gerade deshalb war es vonnöten, dass im Jahre 1930 die KPD ihr »Programm zur nationalen (!) und sozialen Befreiung« vorlegte.

Glücklicherweise ist es nicht so, dass nie aus der Geschichte gelernt wird. Das zeigte das Jahr 1933, in dem sich namhafte Politiker, Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler aus den verschiedensten Bereichen eben anders verhielten als 1914, wo viele in den Kriegstaumel geraten waren. Entgegen der hetzerischen Demagogie der Faschisten entstand das, was man das »andere Deutschland« nannte. Es umfasste viele und verschiedenartige Menschen. Seine Vertreter litten in den Konzentrationslagern, wie Ernst Thälmann in Buchenwald, manche versuchten, sich im Innern des Reiches den Nazis zu versagen, andere kämpften im Ausland mit Wort ich spreche von der meinen.» Mich per sönlich trösteten im türkischen Exil Johannes R. Bechers Deutschlandgedichte, die mich in bescheidenen Heften erreichten. Becher war es dann auch, der später die Hymne der DDR verfasste: «Aufer standen aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.» Diese wenigen Beispiele, denen gemeinsam ist, dass sie das Bekenntnis zu Deutschland mit einem starken Veränderungswillen verbinden, mögen ergänzt werden durch das Bekenntnis Kurt Tucholskys, mit dem er sein kritisches Buch «Deutschland, Deutschland über alles» ausklingen lässt: «Ja, wir lieben dieses Land (gesperrt von Tucholsky) »Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich >national< nennen, und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da. ... Und so widerwärtig mir jene sind, die - umgekehrte Nationalisten - nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keine Himmel, keine Welle - so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen - aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln - mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel - mit genau demselben Recht nehmen wir Fluss und Wald in Beschlag, Strand und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen - weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade: man hat uns mitzudenken, wenn >Deutschland< gedacht wird... Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht - uner schütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert - die stille Liebe zu unserer Heimat.«

Soweit Tucholsky, wahrhaftig weder des Chauvinismus noch der Deutschtümelei zu zeihen.

Dem von den Nazis angezettelten Kriege folgte eine erneute Spaltung des Landes. Was immer auch darüber geschrieben wurde, das Volk nahm die Teilung nicht an; nie waren die verwandtschaftlichen Bande stärker als zu jener Zeit, in denen sie im Osten offiziell nicht gewollt und im Westen schon deswegen um so mehr gepflegt wurden.

Keine Frage, dass die Neuvereinigung im Jahre 1989 in beiden Teilen des Landes viele Erwartungen weckte, Skeptiker blieben in der Minderzahl. Die dann im Laufe der Jahre einsetzende Ernüchterung kam, weil wieder einmal zu viel »von oben« ausging; das war begleitet von einer immer hemmungsloser werdenden Profitwirtschaft, von einer Allmacht des Kapitals und des Besitzes, die sogar unsere kapitalismustrainierteren Landsleute im Westen heute beunruhigt und erschreckt. Dem lässt sich aber nicht durch Absage an die Nation begegnen.

Wir haben nun einmal eine gemeinsame Geschichte, so belastet sie auch sein mag, eine gemeinsame Kultur und Sprache, auch nationale Besonderheiten, wie jedes andere Land. Historisch Gewordenes ist auch menschlich Erfahrenes und Emotionales. Schwerlich können wir die Menschen erreichen, wenn wir ihre Heimatgefühle missachten; das ist sogar gefährlich, weil dann Nationalisten freies Spiel haben. Gegen eine skrupellose kapitalistische Globalisierung »von oben« kann man zunächst nur im nationalen Rahmen »von unten« ankämpfen, um von da aus international weiterzuwirken für ein vereintes Europa demokratischer Nationen.