Im Harzer Kneipkur-Städtchen Bad Lauterberg gibt es (noch) eine Fabrik, die Hemeyer-Verpackungen heißt. Bald ist die Bude so dicht, wie die Qualitätsfässer, die sie herstellt. Vor Jahren zog schon einmal ein Betriebsteil gen Osten. Ohne die Beschäftigten. Nun werden wieder 50 Kollegen entlassen, weil man dem Unternehmer (West) in Bitterfeld (Ost) Zucker in den ... Sie wissen schon.
In Kürze ist Hussein, Türke und Wirt der «Goldenen Aue», seine wichtigsten Gäste los. Allah ist sein Zeuge, an der Gulaschsuppe liegt es nicht. Auch nicht am Bier. Nur haben Dietmar, Frank, Berthold, Michael und fast 50 weitere Kollegen kaum noch einen Grund, bei Hussein einzukehren. Ihr Betrieb wird geschlossen, folglich gibt es keine Belegschaftsver Sammlungen mehr. Die wurden in der «Goldenen Aue» abgehalten, sogar Minister Trittin hat schon einmal an einer teilgenommen. Weil hier sein Wahlkreis und er ein sozialer Mensch ist. Gebracht hat das nichts, abgesehen von einem hübschen Umsatz und einem bunten Grinsebild (mit Unterschrift} für Hussein.
Hemeyer boomt. Die Auftragsbücher sind voll. Trotzdem macht er einen weiteren Betriebsteil dicht. In Bitterfeld, wo einst ein DDR-Chemiekombinat stand, da macht er wieder auf. Mit einem schönen Batzen Fördermitteln, damit sich im Osten was entwickeln kann. Vor allem entsteht da ein neuer Typ «Arbeitnehmer» - der weder Lohn, noch Arbeitszeit, noch Ur laub nach gängigem Tarif verlangt. So weit, so normal. Doch die, die bei Hemeyer Arbeit (aufnehmen, die sind noch braver. Nicht einmal im Traum wagen sie an so etwas «Schlimmes» wie einen Betriebsrat zu denken. Hemeyer, was willst du mehr? Die alten «Querschießer», die er offensichtlich sogar physisch hasst, ist er los, neue wird es nicht geben.
«Chef-Que.rschießer» in Bad Lauterberg ist Dietmar Henschel. Der könnte sich nun, da die Schlacht verloren ist, zurück nehmen und die letzten Stunden Job genießen. Macht er aber nicht. Stattdessen informiert er Hinz und Kunz und den halben Bundestag vom Schicksal seiner Kollegen. Dreierlei will der Betriebsratsvor sitzende erreichen: Erstens, dass sich die Herrn in der Politik für neue Jobs verwenden. Das zumindest macht der Landrat sehr engagiert. Zweitens will Henschel seine Kollegen per Kurs für Bewerbungen fit machen. Drittens erteilt er Nachhilfe- Unterricht in Sachen Förderpolitik.
Klar ist, dass da im Osten was Neues aufgebaut werden muss. Nicht klar ist, warum man dafür im Westen abbauen darf und trotzdem Steuermillionen bekommt. Diese einfache und logische Frage hat ihm noch keiner schlüssig beantwor ten können. Nicht einmal Gysi, der immerhin für sich und seine PDS in Anspruch nehmen kann, dass er seit dem ersten Einheitstag warnte: Leute, der Aufbau-Ost ist das Gesellenstück, das Meisterstück «Sozialabbau» bekommt das ganze Land zu spüren. Nun ist es so weit.
Dietmar ist 50. Zwei Jahre älter ist Berthold. Was ihm kein Mensch glaubt. Nicht nur, weil hinten an seinem Bürstenhaarschnitt ein langes geflochtenes Schwänzchen hängt. Man muss gesehen haben, wie er stolz mit junger Frau und Kinderwagen durch die Einkaufsstraße von Bad Lauterberg paradiert! Was nun? 30 Jahre bei Hemeyer - und tschüß! Falls er hier in der Gegend noch mal einen Job bekommt, dann nicht unter einem Drittel Miese in der Tüte. Wegziehen? Wohin? Nach Bitterfeld? Berthold liebt nebst Frau und Kind auch diese Gegend.
Michael, der sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Betriebsrat verabschiedete, als sich die Sache mit «dem Alten» zuspitzte, nun aber doch den Mund nicht halten will, spielte die Variante «Wegziehen» auch durch. Doch er hat Frau (mit Job), Sohn, Tochter und gerade ein Häuschen gekauft. Alles aufgeben, um in Bitterfeld als «reicher Wessi» Spießruten zu laufen?
In den Sack hauen, irgendwo neu anfangen, das kann sich am ehesten Frank Deppe, genannt «Katze», leisten. Der ist ledig - abgesehen von seinem unlösbaren Verhältnis zu Hannover 96. Doch wo soll er hin, wo man nicht sofort erfährt. Der war einer von den Unbequemen. Und das nicht nur für Hemeyer. Auch in Wiesa, einem Dorf gleich um den nächsten Hügel, ist der Zottlige bekannt. Heute stört er wieder den «Waldfrieden». Das ist ein Pflegeheim, dessen Inhaberin Frau Lamm alles andere als lammfromm ist, wenn es gegen den nach ihrer Meinung frecher weise gewählten Betriebsrat geht. Sogar die Alten und die Kranken führt Frau Lamm ins Feld wider die «Terroristen in Schwesterntracht». Lamm und Hemeyer sind vom gleichen Schlage.
Betriebsräte gleich Terroristen ... wann spricht man von den Gewerkschaften als «kriminellen Vereinigungen»? Gemach. So wie sich manche Funktionäre geben, wird das wohl noch dauern. Im «Harz Kurier» stand jüngst ein Leserbrief, in dem gefragt wurde, was die IG Metall für die «Hemeyers» tut. Der zuständige Sekretär und die DGB-Rechtsstelle erfuhren Lob. Tadel entlud sich über dem 1 Bevollmächtigten der «Metaller». Der habe sich nicht einmal bei der verratenen Truppe blicken lassen. Weshalb die Kollegen «ihrem» Kollegen raten, über Weihnachten mal darüber nachzudenken, wer ihm sein Gehalt bezahlt. Wobei - eins und eins können die Funktionäre schon zusammenzählen, da verstehen die auch keinen Spaß. Als die Gefeuerten um Rechtshilfe bei den IG-Metall-Chefs nachsuchten, haben die erst einmal überprüft, ob die abgeführten Beiträge auch nicht zu gering bemessen sind. Bei manchem war das so - die Nachzahlungsforderung ließ nicht auf sich warten. Dafür warten die Kollegen aus Bad Lauterberg schon über ein Jahr auf die Gewerkschaftsverwalter aus dem Raum Bitterfeld. Sie hielten es wahrhaftig für möglich, dass die aus dem Osten für die im Westen solidarische Worte finden.
50 Jobs weniger in Bad Lauterberg - da wird nicht nur Hussein auf seiner Gulaschsuppe sitzen bleiben. Der Bäcker wird kleinere Brötchen backen, der Tankstellenpächter nicht nur auf die Ökosteuer schimpfen, das Reisebüro hat für Dietmar zum letzten Mal einen Tauchur laub im Roten Meer organisiert. Statt Feines vom Schlachter kann sich Berthold auch Abgepacktes von Aldi vorstellen, «Katze» ist sogar sicher, künftig auch ohne Pizza-Dienst am Leben zu bleiben. Und all das in einer Stadt, die pleite ist.
Stadtdirektor Otto Matzenauer, ein parteipolitisch ungebundener Kommunal- Fuchs, hat eine Haushaltssperre durchgedrückt. Die deutsche Einheit hat Bad Lauterberg zu lange zu viel genommen. Zunächst die «Zonenrandförderung». Statt Fördermittel projektbezogen auszureichen, verschleudert man sie unkontrolliert. So hat man statt der Grenze, die zwei Staaten trennte, eine Mauer zwischen Förderzonen aufgestellt. Wo die verläuft, sei einfach festzustellen, sagt Matzenhauer. Früher waren die Straßen im Westen gut, im Osten mies: Heute ist es umgekehrt. Er hat Recht. Matzenhauer kritisiert, dass die Regierenden die Gewerbekapitalsteuer strichen und den Freibetrag bei der Ertragsteuer erhöhten. Gift für kommunale Kassen. Die Gesundheitsreform kostete Kurpatienten und damit Kunden.
Er rechnet vor, dass seit dem Einheitsjubel pro Jahr eine Million Mark weniger Einnahmen fließen. Dafür steigen die Ausgaben. Der Not gehorchend reduzierte man die Personalkosten. Im nächsten Haushaltsjahr müssen wieder 280 000 Mark gespart werden. Die Stadt hat Wohnungen verkauft und so fünf Millionen Mark erlöst. Erstmals werden die Bürger Abgaben für Straßenreinigung und Schneeräumen entrichten müssen. Nicht die Welt, wohl aber signalisiert es: Schluss mit bisherigem Anspruchsdenken.
Einer vom nahen, plattgemachten Bischofferoder Kalischacht, der bei Hemeyer einen (vorläufigen) Job gefunden hatte, brachte reduziertes Anspruchsdenken auf einen simplen Nenner- Nun wird ganz Deutschland ein einzig Ossiland.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/893435.warum-hussein-sauer-auf-hemeyer-ist.html