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Leben in Fahrt, längst nicht am Ziel

Gustav Adolf Schur, genannt Täve, Radfahridol, populärster DDR-Sportler aller Zeiten, wird heute 70

  • Lesedauer: 10 Min.

Meiner Meinung nach ist es ein bisschen übertrieben. Aber wenn ich mir - wie dieser Tage gerade - beim Besuch eines Frauen-Zentrums in Berlin-Hohenschönhausen die Reaktionen der 60 Damen genau besehe, dann zeigt mir das wieder, dass ich eigentlich auch was richtig gemacht haben muss.

? Kennt die Öffentlichkeit irgendwas von Täve nicht, hat er bislang etwas erfolgreich verheimlichen können?

Nein, da ist wohl nichts mehr. Ich bin immer offen. Ich sage die Dinge so, wie ich sie empfinde, wie ich sie erlebe.

? Bisweilen auch undiplomatisch...

Das ist eben meine ehrliche Art, auf die Menschen zuzugehen. So bin ich groß geworden.

? Fast alle sagen Täve, wenn sie Gustav Adolf Schur meinen. Wieso?

Eine im Magdeburgischen nicht unübliche Abkürzung von Gustav.

? Und wer hat unseren Täve erfunden?

Als ich 1950/51 begann, so richtig Rennen zu fahren, war da der verrückte Heinz Högel. Von dem stammt das, und dabei blieb es. Das war mir auch immer lieber als Gustav Adolf.

? Was wäre denn so die wichtigste Lebensleistung nach 70 Jahren?

Ach du meine Güte. Das Wichtigste war meine sportliche Zeit, die ich dann später auch mit der Politik verbinden konnte, in der Volkskammer, im DTSB-Bezirksvorstand Magdeburg. Das alles möchte ich nicht missen.

? Aber besonders herausragend war doch wohl die Friedensfahrt.

Die hat mir unwahrscheinlich viel gegeben, weil ich dabei auch gelernt habe, welche Verpflichtung ein Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten hat. Ich bin auf dieser Seite Deutschlands, in der DDR, groß gewor den, und zwar immer mit dem schlechten Gewissen, du hast etwas gutzumachen. Durch die Friedensfahrt wollte und konnte ich das tun, weil ich Millionen Menschen ein Bild von einem anderen Deutschland vermitteln und fantastische Freundschaften schließen konnte. Etwa mit Jan Vesely.

? Zwei Mal Weltmeister - aber auf den Hattrick verzichtet. Wie war das damals 1960 auf dem Sachsenring, als Täve den Belgier Willy Vandenberghen ans eigene Hinterrad brachte und Bernhard Eckstein freie Fahrt zum WM-Titel gewährte? Dichtung oder Wahrheit?

Von beidem etwas. Nur: Als Held sehe ich mich nicht. Es war doch ein ganz logischer Ablauf, Eckstein wegfahren zu lassen, während ich auf den Gegner aufpasste. Das Ding war nicht anders lösbar, hätte aber auch schief gehen können. Ich bin heute noch glücklich darüber, dass es so gelöst worden ist. Aber ich war eigentlich der Favorit und wäre auch gern Weltmeister geworden.

? Später 32 Jahre lang in der Volkskammer der DDR. Wie war diese Zeit aus heutiger Sicht?

Für mich ungemein interessant und erfüllend. Wenn ich nur an die Arbeit im Jugendausschuss der Volkskammer denke, wo das Jugendgesetz der DDR vorbereitet wurde. Wo ist heute so ein Gesetz, das für soziale Sicherheit sorgt und Grundrechte der Jugend festschreibt?

? Täve für die PDS im Bundestag. Wie fällt der Vergleich zu damals aus?

Hier und da tat und tut man in den jeweiligen Ausschüssen an Gesetzen mit. Damals in der Volkskammer war aber sozial gesehen wirklich das Volk mitten in der Kammer drin. Heute im Bundestag sind das alles Berufspolitiker, die schon zig Wahlperioden da sitzen.

? Wer hatte den über 67-jährigen Schur 1998 überredet, für die PDS für den Bundestag zu kandidieren?

Überredet hat mich Gysi. Aber für mich war es auch eine politische Konsequenz. Nach all dem, wie nach der Wende mit uns hier im Osten umgegangen wurde, mit denen, die mit ehrlichem Herzen die DDR aufgebaut haben. Da brauche ich nur an meinen Vater denken.

? Wer war besonders prägend für Täves Lebensweg?

Hermann Erdwig, späterer Direktor des VEB Spezialbau Magdeburg, den ich 1951 kennenlernte. Ein Mann, der Sportler und Sport förderte wie kein anderer. Seine Frau, die heute 93 ist, betreuen die Schurs noch immer.

? Zm DDR-Zeiten hauptberuflich Vize- Chef im Magdeburger DTSB-Bezirksvorstand, nach der Wende Ehrenpräsident im Landessportbund Sachsen-Anhalt. Schur ein Mann der Wende?

Nein, das war anders. Bei der Wahlveranstaltung beim LSB Sachsen-Anhalt stand am Ende einer auf und sagte: Wir sollten auch noch einen Ehrenpräsidenten wählen: Täve Schur. Da hab ich den Leuten gesagt, wie mich das ehre. Aber sie mögen bitte bedenken, dass ich einer von denen war, die in der Volkskammer immer die Hand gehoben haben, einer von denen in der SED Aber ich bin heute noch Ehrenpräsident. Im Übrigen lasse ich mir von niemandem vorwerfen, in der falschen Partei gewesen zu sein. Es sind viele Fehler gemacht worden, aber die Grundidee war richtig.

? Zm DDR-Zeiten hatte Täve eine kritische Sicht auf den Profisport. Nach der Wende ging sein Sohn Jan als Profi nach Italien. Wie hat der Vater da reagiert?

Jan hatte keinen vollständigen Berufsabschluss. Zu DDR-Zeiten wäre er noch ausgebildet worden. Nach der Wende hatte er keine andere Chance, als die, mit seinem sportlichen Können Geld zu ver dienen. Damit musste ich mich abfinden.

? Wäre Täve selbst gern Profi geworden?

Ob in einer solchen Gesellschaft wie heute, das weiß ich nicht. Gern aber auf keinen Fall. Sich in dieser Weise zu ver kaufen, ist nicht meine Welt. Meine Motivation waren immer die Menschen und nicht das Geld. So sind wir doch groß geworden in der DDR. Ich habe diesen Menschen gegenüber tatsächlich immer eine Verpflichtung gesehen. Sie haben dafür gesorgt, dass ich meinen Sport so unbekümmert treiben konnte. Durch sie bin ich letztlich der Täve geworden.

? Was macht »Täves Rad-Laden« in Magdeburg?

Den habe ich nie selbst geführt. Ich habe meine Namen dafür hergegeben. Der steht heute noch drüber. Mein Sohn Gus-Erik, ein kleiner Lebenskünstler, betreibt den Laden alleine. Ich verlange von ihm dafür keinen Pfennig.

? Aber »Täves Sporthotel« in Schierke musste 1999 Konkurs anmelden.

Mein Sohn Jan, der verrückte Kerl, der hatte ein bisschen Kies bei den Profis gemacht und die Idee zu dem Hotel. Unter meinem Namen natürlich, aber warum auch nicht. Jedenfalls kaufte er einen alten Kindergarten auf. Wir haben dann gemeinsam an dem alten Bau geackert. Die Sache wurde aber immer teurer, offene Rechnungen häuften sich. Zwar hat die Bank einen Kredit zugesagt, aber den nicht rübergereicht. Da spielten noch andere üble Dinge mit. Jan musste dann Konkurs anmelden, und das Hotel wurde später zwangsversteigert. Ich fühlte mich dann irgendwie mitschuldig an allem und habe deshalb eine Hypothek auf mein Haus und Grundstück aufgenommen. In einem halben Jahr bin ich aus allem raus. Dann gehört mein Haus wieder mir.

? Woran krankt heute der deutsche Spitzenport am meisten?

Ganz allgemein daran, dass er ein Opfer der Marktwirtschaft geworden ist und man möglichst Leistungen zusammenkauft statt sie in breiter Front systematisch heranzubilden. Das schwächt die Position des deutschen Nachwuchssports besonders. Ganz zu schweigen vom Schulsport.

? Wie ist da die Lage aus Täves Sicht? Die Schulsport-Situation in Deutschland

ist katastrophal. Jeder zweite Schüler leidet unter Muskelschwäche, jeder Dritte unter Haltungsfehlern, jeder Fünfte unter sechs Jahren ist übergewichtig, jeder Sechste kann nicht normal rückwärts laufen. 40 Prozent der Zwölfjährigen haben Kreislaufprobleme. Ein schlimmer Zustand, der die Frage nach der Verantwortung des Staates aufwirft. Denn die Volksgesundheit beginnt eben ganz unten.

? Aber der Bund, der bekanntlich das meiste Geld hat, verweist bei dem Dilemma auf die föderale, genauer- die Länder- Verantwortung. Gibt es einen Ausweg?

Wir müssten zu einem irgendwie konkurrierenden Gesetz zum Grundgesetz kommen. Weil es in Deutschland doch nur eine Gesundheit geben und nicht jedes einzelne Bundesland seine eigenen Spielregeln, beispielsweise für den Schulsport, aufstellen kann. Bei einer Bundestags- Anhörung habe ich unlängst die Frage gestellt, wo denn die 7000 Sportlehrer, die an der Sporthochschule in Köln ausgebildet werden, bleiben? Antwort: Die gehen in Fitness-Center oder machen sich selbstständig. Als ich im Bundestags- Sportausschuss an anderer Stelle von der Vision sprach, in Deutschland musste es an jedem Tag eine Stunde Schulsport geben, da kam hinterher der Innenminister Schily zu mir. Herr Schur, sagte er, die Schule ist doch gar nicht ihre Sache als Bundestagsabgeordneter. Das war s.

? Was waren die größten Fehler bei der Nachwende-Sportvereinigung?

Dass man, besonders angesichts völlig aufgebauschter Doping-Geschichten, so viele DDR-Trainer entlassen hat. Und dass man das ganze Fördersystem des Nachwuchses zusammenbrechen ließ. Eigentlich sollten ja auch alle Kinder- und Jugendsportschulen zugemacht werden. Das wurde einigermaßen gestoppt. Aber mit dem radikalen Abbau der Trainingszentren ist deren Fundament vollständig abhanden gekommen.

? Nun gibt es in der letzten Zeit so etwas wie die Spät-Erkenntnis nach Sydney und eine gewisse Ost-West-Dialog-Bereitschaft. Macht das Sinn?

Das macht sogar sehr viel Sinn. Ich verfolge da auch mit großem Interesse, was das Neue Deutschland dazu macht. Beispielsweise jüngst mit dem Rundtischgespräch zum DDR-Sporterbe. Ich finde beachtenswert, was dort von kompetenter Seite gesagt worden ist. Auch wenn das DDR-Sportsystem unter den heutigen Strukturen nicht zu kopieren ist, bleibt eben noch genug Mach- und Nutzbares. Auch wenn inzwischen zehn Jahre ins Land gegangen sind. Nur muss man bereit sein, es wirklich nutzen zu wollen.

? Gäbe es denn dafür eine reale Chance, wie sollte das praktisch aussehen?

Es bleibt nichts anderes übrig. Man wird ganz einfach etwas Ähnliches machen müssen, den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt.

? Kann der Bundestags-Sportausschuss hier eine Scharnierfunktion ausüben?

Wenn er sich denn durchsetzten könnte. Aber das ist eine schwierige Sache, weil beispielsweise das Bundesministerium des Innern die Mittel für den Spitzensport von oben bereit stellt. Das aber musste eigentlich demokratisch von unten nach oben geschehen. Das ist das Problem.

? Sehen dasAusschuss-Kollegen anderer Parteien, wie beispielsweise Herr Kinkel, auch so?

Die begreifen das meistens gar nicht so. Die haben sich an diese Welt gewöhnt und versuchen, ihr noch etwas abzugewinnen.

? Ist Täve eigentlich noch immer sportlich aktiv?

Frühmorgens Gymnastik, ein paar Liegestütze, dazu eine Fünf-Kilo-Hantel. Rad fahren ist in Berlin nicht, aber ich meide das Auto, bin meistens zu Fuß unterwegs. Mein Renngewicht von rund 71 Kilogramm stimmt heute noch. Und es bleibt weiter dabei: Ich rauche und trinke nicht.

? Der weise Ratschlag des 70-Jährigen an die heutige Jugend?

Rebellieren! Auf die Straße dorthin gehen, wo links steht, um für die Jugend Rechte einzuklagen. Eine andere Lösung kenne ich nicht, um was zu bewegen, um den Reichtum des Volkes anders zu ver teilen. Und ich möchte den jungen Leuten auch sagen, dass wir lernen müssen, bescheidener zu leben und dass wir ein Herz für die anderen Menschen dieser Welt haben müssen.

? Wo begeht Täve seinen 70. ?

Auf Grund meiner Diäten als Bundestags-Abgeordneter kann ich es mir erlauben, eine Geburtstagsrunde in einem Hotel zu Hause in Heyrothsberge zu inszenieren. Für die Familie und rund 50 Leute, engste Freunde aus Friedensfahrt-Zeiten.

? Welcher Überraschungs-Gast wäre der liebste?

Ohne irgendeinem Gast zu nahe treten zu wollen: Fidel Castro.

? Am 6. März wird im Berliner Velodrom eine öffentliche Geburtstags-Party mit vielen Assen des DDR-Sports und namhaften Künstlern veranstaltet. Freut sich Täve darauf oder alles zu viel Trubel für ihn?

Wie gesagt, ich halte es für ein bisschen übertrieben. Aber was die Sache angeht, dass DDR-Geschichte die Hauptrolle spielt und sich Menschen freuen und wohl fühlen wollen, halte ich es für richtig. Da kann ich ja nun wohl nicht kneifen.

? Ein Wunsch für die nächste Zeit?

Mit meiner Frau Renate per Wohnmobil durch Skandinavien fahren.

? Täve - ein Leben in Fahrt, längst nicht am Ziel. Weiterhin gute Reise und: Herzlichen Glückwunsch!

Gespräch: Michael Müller und Jürgen Holz

Karikatur: Harald Kretzschmar; Fotos: ND, ZB, dpa, privat, imago, Das Neue Berlin

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