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Schildbürger lassen schön grüßen

Arzt darf unverbrauchte Arzneien nicht an andere Patienten weitergeben

  • Lesedauer: 5 Min.

? Wie kamen Sie auf die Idee, unver brauchte Medikamente wieder einzusammeln und an Patienten weiterzugeben, die sie benötigten?

Das habe ich schon seit Jahrzehnten getan. Ich bin gerade 58 Jahre alt gewor den, habe mit 24 Jahren mein Examen gemacht, dann drei Jahre im Krankenhaus gearbeitet und bin seit dreißig Jahren als niedergelassener Arzt tätig. Solange gebe ich unverbrauchte Medikamente nach sorgfältiger Prüfung an Patienten weiter, die sie benötigen.

? Wie muss man sich das praktisch vor stellen? Haben Sie eine große Kiste in Ihr Behandlungszimmer gestellt, in die alle Reste hineinkamen?

Ein Beispiel: Ich mache einen Hausbesuch in einem Dorf bei einem Krebspatienten und schreibe ihm ein Medikament auf. Wenig später bekommt der Patient einen Herzinfarkt und verstirbt. Teilweise sind die Medikamente, die er verordnet bekam, noch in den Apothekentüten. Soll ich die nun wegwerfen? Nein, ich habe sie wieder mitgenommen und Patienten gegeben, die genau diese Medikamente brauchten. Dabei habe ich auf Bedürftigkeit geachtet, und geschaut, wer die Zu- Zahlung leichter oder weniger leicht leisten kann. Das entschied ich nach sozialem Gewissen.

? Waren Sie sich im klaren darüber, dass Sie gegen Gesetze verstoßen und mit dieser Handlungsweise ein paar Feinde auf den Plan rufen?

Ich wusste nicht, dass ich das nicht machen darf, obwohl ich auch als Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe in Detmold tätig bin. Wie sich jetzt aber herausgestellt hat, haben das von den 60 000 als Hausärzten tätigen Ärztinnen und Ärzten fast alle so gehandhabt. Im Dezember 1999 habe ich mich wegen des zu engen Arzneimittelbudgets an die Öffentlichkeit gewandt. Mit meinen Kollegen hatten wir uns geeinigt, zum Ende des Quartals nur noch kleine Packungen aufzuschreiben. Das wollte ich erklären. Einem Redakteur habe ich bei dieser Gelegenheit gesagt, wie wir Ärzte bereits sparen. Am nächsten Tag lautete die Schlagzeile: Berendes verschenkt Medikamente von Toten.

Da hatte ich die Apotheker am Hals, die mit 43 Prozent Bruttoumsatzgewinn nicht zufrieden sind. Medikamente sind teuer. 100 Tabletten können schon mal 300 oder 400 Mark kosten und davon bekommen Apotheker mindestens noch ein Drittel. Das steht doch in keinem Verhältnis, beispielsweise zu einem Mediziner im Osten, der für die dreimonatige Rundum-Behandlung eines Patienten vielleicht 38 Mark bekommt. Von einem Geschäftsführer der Apothekerkammer aus Münster bekam ich einen bitterbösen Brief, der mir unverantwortliches Handel vorwarf. Ich würde meine Patienten in Gefahr bringen. Aber nur wenig später wurden zwei Apotheker aus Bad Pyrmont in einer Zeitung gelobt, die aufriefen, unverbrauchte Medikamente von Patienten zu sammeln, um sie in den Kosovo und die Ukraine zu bringen. Ich habe gefragt, ob die Menschen hier weniger wert sind als die in der Ukraine. Ist das doppelte Moral oder Gewinnsucht? Mit dieser Frage habe ich die Apotheker wohl endgültig verärgert. Dann kam die Klagen. Gegen eine Anklage wegen unlauteren Wettbewerbs habe ich gewonnen. In der vorigen Woche wurde ich wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 43 verurteilt. Er besagt, dass nur Apotheker Medikamente abgeben dürfen.

? Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die »alten« Medikamente könnten weniger wirksam oder unwirksam sein, weil man nicht wisse, wie sie gelagert wurden?

Dieses Argument ist›Scheinheilig. Medikamentenhersteller und Wissenschaftler haben mir bestätigt, dass Medikamente tropensicher sind, es sei denn, es gäbe einen speziellen Hinweis auf der Packung.

? Untersuchungen zufolge werden in Deutschland jährlich mehr als 4500 Tonnen Arzneimittel weggeworfen und die Kosten dafür übersteigen vier Milliarden Mark. Haben Sie mal überschlagen, was Sie persönlich eingespart haben?

Durchschnittlich zehntausend Mark pro Jahr und Praxis. Rechnet man das auf alle Praxen unserer Kassenärztlichen Vereinigung hoch, sind das 600 Millionen Mark Einsparungen. Da ich aber für meine Handlungsweise verurteilt worden bin, werden viele meiner Kollegen in Zukunft nicht mehr auf diese Art sparen. Das wird die Solidargemeinschaft künftig zusätzliche Millionen kosten, und das ist eine Schweinerei.

? Vor diesem finanziellen Hintergrund hätte man Sie zum Sachverständigen für die kommende Gesundheitsreform machen müssen oder für einen Preis vorschlagen

Die Patienten stehen hinter mir, die Kollegen, die ganze Bevölkerung. Auf einer öffentlichen Veranstaltung in Detmold haben sich Bundestagsabgeordnete, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und AOK-Arzneimittelexperten für dieses Vorgehen ausgesprochen. Es gibt Statistiken, dass 40 Prozent der weggeworfenen Medikamentenpackungen nicht einmal angebrochen sind.

? Sie haben angekündigt, gegen das Ur teil Revision einzulegen. Welche Chancen rechnen Sie sich aus?

Ich versuche, Rechtsbeschwerde einzulegen, weiß aber noch nicht, ob die angenommen wird. Noch bin ich ja nicht vorbestraft, aber auch das würde ich in Kauf nehmen. Wenn man nur ein bisschen Ethik im Bauch hat, muss man das einfach machen. Notfalls gehe ich bis vor das Bundesverfassungsgericht.

? Was müsste sich nach Ihrer Meinung am Arzneimittelgesetz ändern?

Paragraf 43 des Arzneimittelgesetzes muss geändert werden. Wir wollen auch künftig unentgeltlich Medikamente weitergeben. Das Geld fehlt, und wenn dieses nicht möglich sein sollte, wäre das ein Skandal und eine gesetzlich verordnete Verschwendung. Apotheker, deren Berufsgattung ja auch zu den Heilberufen gehört, sollen anderenfalls das Wort Ethik nicht mehr in den Mund nehmen, sondern nur noch das Wort Monetik.

? Müssen Sie über die Geldstrafe hinaus noch Prozesskosten zahlen?

Prozesskosten und Anwaltskosten. Wie hoch die sind, weiß ich noch nicht.

? Haben Sie sich mit Ihrem Anliegen an das Gesundheitsministerium gewendet?

Kollege Dr. Alexander Graudenz hat die Medikamentenumverteilung mit einem gigantischen erfolgreichen Feldversuch verglichen. Es ist jahrzehntelang nie ein Patient zu Schaden gekommen und uns jetzt den Vorwurf unärztlichen und unverantwortlichen Handelns zu machen, ist eine Unverschämtheit.

Interview Silvia Ottow

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