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  • Politik
  • Belgrad Interviews- Kontaktaufnahme

Dark continent für Linke?

  • Boris Kanzleiter
  • Lesedauer: 3 Min.

Beobachtung des kleinen und das begreifen mit der Verbindung differenter linien des geschichtlichen, politischen, sexuellen, ökonomischen und begehrenden» - so formulieren Katja Diefenbach und Katja Eydel das Postulat, welches ihr Buch «belgrad interviews» durchzieht. Sie befragen Aktivistinnen und Aktivisten des kulturellen Under grounds, herrschaftskritische Intellektuelle und politische Oppositionelle der jugoslawischen Hauptstadt zu den Veränderungen des letzten Jahrzehnts in ihrem durch Kriege gezeichneten Land. Der inhaltliche Bogen der Gespräche spannt sich von der Sendepraxis des Radios B-92, über die Identitätskonstruktion «jugoslawischer» versus «serbischer» Fans von Partizan und Roter Stern Belgrad bis hin zur gescheiterten Zusammenarbeit zwischen Belgrader und kosovo-albanischen Nichtregierungsorganisationen. Ergänzt sind die 14 Gespräche durch Kommentare und Artikel der Berliner Autorin Katja Diefenbach. In den Beiträgen «Jugoslawien als dark continent der BRD-Linken» und die «Die Kinder von 1974» ruft sie die politische Debatte zwischen der westlichen und jugoslawischen Linken in den 60er und 70er Jahren in Erinnerung.

Diefenbach beschreibt, wie die Rebellionen von Paris, Berlin und Prag 1968 für einen kurzen historischen Moment das Projekt eines emanzipatorischen Sozialismus jenseits realsozialistischer, staatsbürokratischer Herrschaft denkbar machten. Jugoslawien mit seinem Arbeiterselbstverwaltungsmodell und den Diskussionen der linksmarxistischen «Praxis-Gruppe», eines bedeutenden Intellektuellenzirkels im Umkreis der Belgrader und Zagreber Universitäten, war für die westliche anti-autoritäre Linke besonders interessant. Doch nach der Zerschlagung der «Praxis-Gruppe» 1975 - fünf Jahre vor Titos Tod - riss der Faden ab.

«Als in den 80er Jahren in Jugoslawien und in der BRD zur gleichen Zeit Punk und neue soziale Bewegungen auftauchten, existierte ein größeres internationales Diskussionsforum zwischen Ost- und West-Linken nicht mehr», schreibt Diefenbach. «Dabei wäre es interessant gewesen zu diskutieren, warum die mikropolitischen Bewegungen in Jugoslawien die Nationalisierung der Gesellschaft nicht aufhalten konnten, während sie in der BRD die 80er Jahre-Mischung aus Konservatismus, Lifestylisierung und Neo- Nationalismus nicht abgeblockt haben.»

In den 90er Jahren geriet Jugoslawien dann vollständig zum «dark continent» für große Teile der Linken. Für sie war das Land lediglich «Objekt westlicher Strategien». Oppositionelle, Kritiker des Nationalismus in Jugoslawien wurden kaum zur Kenntnis genommen. Dabei wäre es wichtig gewesen, eine «gemeinsame Diskussion über Nationalismus und Herr Schaftsstrategien aufzubauen». Diefenbach hofft: «Hat die Positivität von 1968 Fiatbesetzung, Unistreik und den Kampf um das Schicksal des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus für eine kurze historische Sekunde zusammengeschweißt, müsste die soziale Negativität der 90er die Kritik am Krieg der neuen Mitte und am Sieg des Nationalismus in Jugoslawien zusammenbringen.»

Am Beispiel des «Turbofolks», des in den 90er Jahren populär gewordenen nationalistischen Disco-Sounds von Sängerinnen wie Ceca, der Frau des Paramilitärführers Arkan, beschreibt die Soziologin Zarana Papic, wie die Subkultur der 80er Jahre als nationalistischer Mainstream der 90er Jahre wieder auftauchte. Und die Kunsthistorikerin Bojana Pejic befasst sich mit der neo-nationalistischen Rhetorik der jeweiligen Eliten der unter schiedlichen jugoslawischen Republiken. Die Konstruktion und Affirmation des Nationalen wurde gegen die soziale und politische Kritik von links und unten in Stellung gebracht. An dieser Stelle wird besonders deutlich, was Katja Diefenbach mit der Notwendigkeit einer «gemeinsamen Diskussion über Nationalismus und Herrschaftsstrategien» meint. Denn der Westen griff national-populistische Herr schaftsdiskurse gerne als Erklärungsmuster für die «ethnischen Konflikte» auf dem Balkan auf. So musste nicht über die Ursache der sozialen Krise geredet wer den, an denen westliche Kapitalisierungspolitik gegenüber Jugoslawien seit den 70ern großen Anteil hatte.

In «belgrad interviews» stehen politische Analysen, seismologische Untersuchungen der gesellschaftlichen Brüche neben der Rekonstruktion des herr schaftskritischen und subkulturellen Undergrounds der jugoslawischen Hauptstadt. Die Fotos von Katja Eydel erzählen wie die Texte von der manchmal absurd anmutenden Widersprüchlichkeit der Normalität: Coca Cola-Sonnenschirme stehen vor von der Nato zerbombten Repräsentativpalästen.

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