Grundlos glücklich

Kann Mensch überleben, wenn er nur Mohrrüben knabbert, Chicorée schnurpst oder Kürbissuppe löffelt?

  • Thomas Bruhn
  • Lesedauer: 8 Min.

Zum ersten »Ärztekongress - Vegetarische Ernährung und Medizin« bin ich gefahren, weil ich neugierig war und wissen wollte, wie sich Sport und vegetarische Ernährung vertragen; zum zweiten habe ich mich angemeldet, weil das Essen beim ersten außerordentlich köstlich war.

Neben dem Essen interessierte mich aber auch, was es aus medizinischer Sicht zu pflanzlicher Ernährung zu sagen gibt und was an den Befürchtungen, dass der Vegetarier, der Veganer gar Vitamin B12, Calcium- und Eisenmangel zu fürchten hat, dran ist. Kann Mensch überleben, wenn er nur Mohrrüben knabbert, Chicorée schnurpst und Kürbissuppe löffelt?

Bevor ich mich in die Bank des Hörsaals zwängte, resümierte ich, was uns auf Reisen widerfahren ist. Um Irrtümern vorzubeugen: Ich esse alles, aber seit ich mit einer Vegetarierin verbandelt bin, habe ich neben dem Vergnügen, pflanzliche Küche zu entdecken und zu genießen, das Pläsier, die seltsamen Reaktionen der Umwelt zu beobachten, wenn diese erfährt, dass jemand sich pflanzlich ernährt.

Sie können das Spiel selbst spielen: Gehen Sie in ein Restaurant, fragen Sie nach einem vegetarischen Gericht, und dem Kellner wird vor Hilflosigkeit die Kinnlade auf die Brust fallen, und er wird stottern: »Einen Salat kann ich Ihnen anbieten.« So weit, so gut - aber pflanzliches Essen ist mehr als nur Salat.

In Stralsund fragte ein Ober, nachdem wir wegen Abwesenheit anderer vegetarischer Gerichte Salat bestellt hatten: »Mit Putenstreifen oder mit Tintenfischringen?« Am Rennsteig orderte die Liebste von allen, weil nicht mal Salat angeboten wurde, Klöße und Rotkohl. Der Kellner stellte mit süßsaurer Miene den in seinen Augen unvollständig gefüllten Teller auf den Tisch und sprach, wie um den Gast wegen des vermeintlich spartanischen Mals zu trösten: »Die Küche hat ein wenig Bratensoße darüber gegeben, sonst schmeckt das doch nicht.«

Auf der anderen Seite aber steht die Erfahrung, dass, sind wir zu einer Feier eingeladen, zu der jeder Gast etwas fürs Buffet mitbringen soll, die vegetarischen Speisen zuerst aufgegessen sind. Rote-Beete-Carpaccio mit Kapern und Gänseblümchen, frittierter Blumenkohl und gedünsteter Fenchel mit Estragon und Kalamata-Oliven sind Renner.

In Leipzig-Plagwitz gibt es die Vleischerei, einen vegetarischen Döner- und Burgerladen mit mäßiger Reputation. Einer der Mitarbeiter berichtete, dass eine Woche lang die Arbeiter von der gegenüberliegenden Baustelle zum Mittagessen erschienen, weil es ihnen so gut geschmeckt habe. Als sie durch Zufall erfuhren, dass sie vegetarisch gegessen hatten, waren sie bass erstaunt, weil sie nicht vor Schwäche vom Gerüst gefallen waren.

In Venlo übernachteten wir in einem Hotel an der Maas. Auf der Speisekarte fanden sich nur Fleisch- und Fischgerichte. Wir setzten uns also auf eine Bank auf dem Parkplatz, der Vegetarier ist stets darauf vorbereitet, in Restaurationen nichts zu essen zu bekommen, und griffen auf Vorräte aus Kühltasche und Gemüsekiste zurück. Als ein Kellner uns Gläser für den Wein brachte und erfuhr, warum wir nicht im Restaurant Platz genommen hatten, sagte er: »Aber sie hätten ihre Wünsche äußern können, unser Koch freut sich, wenn er vegetarisch kochen kann. Wir schreiben Vegetarisches nur nicht auf die Karte, weil es zu selten verlangt wird.«

Am letzten Tag eines jeden Urlaubs gibt’s ein obligates Abschiedsessen in einem Restaurant. In Schweden war es für die Liebste von allen ein Vergnügen der seltenen Art: Sie schlug die Speisekarte auf, und auf der ersten Seite standen sage und schreibe sechs vegetarische Gerichte. Wie sich herausstellte, war die Chefin des Hauses Vegetarierin. Wir bestellten »Alles, was aus der Erde kommt«, verschiedene Wurzelgemüse und Kartoffeln - gestampft, geraspelt, gebacken, gekocht oder zu Soße püriert, verziert mit Schnittlauch und Petersilie.

Gehen Sie heute durch die Buchläden, werden sie unzählige vegetarische oder vegane Kochbücher und Zeitschriften entdecken; allein im letzten Jahr gab es um die fünfzig Neuerscheinungen. Vor ein paar Jahren konnte man froh sein, fand sich in einem normal gemischten Kochbuch ein vegetarisches Gericht.

Es scheint ein Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben, besonders bei jungen Leuten. Egal aus welchem Grund, ob wegen der Gesundheit, ob aus ethisch-moralischen Überlegungen oder um dem Diktat der Lebensmittelindustrie zu entgehen - wobei Lebensmittel und Industrie für mich per se einen Widerspruch darstellen -, scheinen sich alternative Ernährungsformen zu verbreiten. Zum ersten Vegan-Vegetarischen Sommerfest auf dem Alexanderplatz erschienen dreihundert Interessierte, in diesem Jahr traten sich um die zwanzigtausend buchstäblich auf die Füße. Auch die Beteiligung beim Kongress spiegelte diese Entwicklung wider: Nahmen im vorigen Jahr nur siebzehn Medizinstudenten teil, waren es in diesem Jahr über siebzig. Der Vegetarierbund (Vebu) erwartet in den nächsten Tagen sein zehntausendstes Mitglied, auf den Seiten der sogenannten sozialen Netzwerke hat er jetzt schon mehr Anhänger als die CDU.

Doch zum Kongress: Schon bei der Akkreditierung fiel die fast völlige Abwesenheit von Übergewicht auf, ein Eindruck, der sich beim Blick in das Auditorium bestätigte. Ich war froh, dass ich eine Woche Heilfasten absolviert und nebenbei sechs Kilogramm abgenommen hatte und so nicht aus dem Rahmen fiel.

Nach den obligaten Grußworten sprach Professor Leitzmann aus Gießen, einer der Nestoren des Vegetarismus der ehemaligen und der heutigen Bundesrepublik. Er fasste die Ergebnisse unzähliger Studien in zwei Sätzen zusammen: »Vegetarier und Menschen, die alternative Ernährungsformen bevorzugen, sind deutlich geringer von den Zivilisationskrankheiten des Westens betroffen. Sie leben gesünder, werden älter und haben mehr Spaß am Leben.« Insofern kommen Ärzte und Vegetarier außerordentlich gut miteinander aus - sie haben wenig miteinander zu tun.

Ein Exkurs in die Geschichte des Vegetarismus machte deutlich, dass pflanzliche Ernährung zu allen Zeiten praktiziert wurde. Im Paradies, aus dem wir das friedliche Bild vom Löwen neben dem Lamm kennen, kann nur vegetarisch gegessen und gefressen worden sein. Selbst mir als strenggläubigem Atheisten leuchtet das ein. Um die Zeit, aus der die ältesten Siegerlisten der Olympischen Spiele überliefert sind, um die siebenhundert Jahre vor Beginn der Zeitrechnung, gab es zwischen Athen und Schwarzem Meer die Orphiker, die Enthaltung von allem Beseelten lebten. Und Pythagoras, hundert Jahre später, gilt als der Begründer des ethischen Vegetarismus. Als ich dann erfuhr, dass einige meiner Hausheiligen, wie zum Beispiel Rousseau, Voltaire und Georg Bernhard Shaw Vegetarier waren, staunte ich nicht schlecht. Von Friedrich Wolf wusste ich das schon, und ich wusste auch, dass er nach seiner Rückkehr nach Deutschland die Sache nicht mehr so streng sah und ab und an gern ein Schnitzel aß.

Die meisten Vegetarier gibt es übrigens in Indien. Fast fünfunddreißig Prozent der Bevölkerung leben fleisch- und fischlos. Darum ist ein indisches Restaurant zumeist eine sichere Einkehr für den Vegetarier. Unser Lieblingsinder, befragt nach den Essgewohnheiten in seinem Elternhaus, berichtet: »Es gab nur einmal in der Woche Fleisch oder Fisch, dafür jeden Tag frisches Gemüse.«

Gutes Essen und England gehen sich seit eh und je aus dem Weg, trotzdem wurde dort 1801 der erste Verein der Vegetarier gegründet. Das ist vielleicht nicht mehr ganz so verwunderlich, wenn man die üppige Gartenlandschaft der Insel bedenkt, in der Obst und Gemüse reichlich gedeihen. In Oranienburg gründete sich 1893 die »Vegetarische Obstbau-Kolonie Eden«, die heute noch existiert. Sie verstand sich als ein Teil der Lebensreformer, aus deren Schoß übrigens auch die FKK-Bewegung hervorging.

Vor der Mittagspause wurde die Gretchenfrage behandelt: Wie hält es der Vegetarier mit Vitamin B12? Dr. Marcus Keller stellte zunächst fest, dass es keine sichere Versorgung von Vitamin B12 durch Pflanzen gibt. Wer sich vegetarisch ernährt und Milchprodukte und Eier zu sich nimmt, wird keine Probleme bekommen, wer sich vegan ernährt, muss diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit widmen. Eine Möglichkeit sind Nahrungsergänzungen in Form von Tabletten oder Tropfen. Es kann aber schon reichen, eine mit diesem Vitamin B12 angereicherte Zahnpasta zu benutzen. Auch der Verzehr von fermentiertem Soja, Grünalgen und Noriblättern ist hilfreich. Auf alle Fälle sollte ein Arzt regelmäßig den Vitaminstatus kontrollieren. Um Mangelerscheinungen vorzubeugen, em- pfiehlt es sich, einen Ernährungsberater zu konsultieren.

Besonders angenehm empfand ich, dass es nicht um Missionierung der Fleischesser ging, sondern um das Beispiel. Jeder der anwesenden oder referierenden Experten lebt Vegetarismus vor. Auch der Ton auf dem Kongress war ein anderer, als auf medizinischen Fachtagungen üblicherweise: Man gab sich außerordentlich entspannt, es durfte gelacht werden, und man hatte den Mut zu selbstironischer Betrachtung.

Von Trotzki stammt - wenn ich nicht irre - das Aperçu: »Wenn das Essen nach der Revolution nicht besser schmeckt, wird die Revolution ein Fehler gewesen sein.«

Lesen Sie laut, was zum Mittag angerichtet wurde, und lassen Sie jeden Buchstaben auf der Zunge zergehen: Safran-Biriany mit Mango, Cashewkernen und Rosinen; gebratene Paprika auf Erbsen-Minz-Püree; Bulgur-Granatapfel-Salat mit Grillkürbis und Rucola-Basilikum-Schaum-Süppchen auf Rote-Bete-Orangenstampf.

Als Fazit bleibt, dass alternative Ernährungsformen in unserer Gesellschaft weiter verbreitet sind, als sich das im gesellschaftlichen Leben spiegelt, dass der Beitrag, den sie für Gesundheit von Mensch und Umwelt leisten, geringgeschätzt wird.

Nachzutragen bleibt, dasse die Tagung von der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin, vom Vegetarierbund Deutschland und der Carstens-Stiftung ausgerichtet wurde.

Im Gedächtnis blieben mir die Worte einer Kongressteilnehmerin vom vorigen Jahr, die auf die Frage, was sich in ihrem Leben nach der Umstellung auf vegetarische Kost geändert habe, sagte: »Ich fühle mich jetzt oft grundlos glücklich.«

www.vegmed.de; www.vebu.de

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