Stagnation und Wohlbefinden

Lucas Zeise über Gründe, warum die Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik kaum zu spüren ist

  • Lucas Zeise
  • Lesedauer: 4 Min.

Wir können uns schon freuen. Im nächsten Jahr gibt es einen veritablen Aufschwung. Er wird umso toller sein, weil wir in diesem Jahr arg enttäuscht wurden. Vor Kurzem hat das Statistische Bundesamt im dritten Quartal nur ein kümmerliches Wachstum von 0,3 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) festgestellt. Damit sind im Gesamtjahr 2013 nicht mehr als vielleicht mal gerade plus 0,4 Prozent Wachstum drin, schätzt der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Bernhard Heitzer. Da ist ein höheres Wachstumstempo zum Jahresende schon einkalkuliert. Also wird es im kommenden Jahr eine Steigerung des BIP um satte 1,7 Prozent geben, sagte die OECD ein paar Tage später. 2015 sollen es sogar 2,2 Prozent sein.

Die OECD ist der Club der etablierten Industrieländer und interpretiert im Regelfall die von den beteiligten Regierungen gelieferten Wirtschaftsdaten. Die Prognosen der Regierungen der einzelnen Länder, der EU-Kommission und eben der OECD ähneln sich deshalb sehr - auch im zeitlichen Ablauf. Die Vorhersagen für das jeweils kommende Jahr sind fast immer erfreulicher als die schon ein wenig faktengesättigte Schätzung für das laufende. Die Tendenz, den Aufschwung in der näheren Zukunft immer zu erwarten, ihn aber laufend weiter weg zu schieben, ist seit Beginn der Weltwirtschaftskrise im Sommer 2007 noch ausgeprägter geworden. In dieser Zeit gab es einen einzigen kurzen wirklichen Aufschwung. Das war die Erholungsphase nach dem tiefen Einbruch 2008/09. Sie setzte Ende 2009 ein und lief 2010 schon wieder aus.

Die offiziellen Statistiken der verschiedenen Institutionen stimmen auch in einem anderen Punkt überein: Verglichen mit anderen Ländern des Euro-Gebiets geht es Deutschland, was das Wachstum betrifft, noch sehr gut. Dank dieser Tatsache, die man vor den Bürgern nicht verborgen hat, hat Frau Merkel die Bundestagswahl gewonnen. Die Wirtschaft der Euro-Südländer schrumpft seit Jahren. Frankreich und die Niederlande, die größten Handelspartner der Bundesrepublik, stagnieren. Das ist nur ein wenig schlechter als in Deutschland. Aber Kümmerwachstum ist immerhin besser als gar keins. Die Euro-Zone - einschließlich Deutschlands - ist das Gebiet auf dem Globus, das von der großen Krise am stärksten heimgesucht wurde.

Wir haben es zweifelsfrei mit einer weltweiten Wirtschaftskrise zu tun. Sie ist, wie im Kapitalismus üblich, eine Überproduktionskrise. Die Nachfrage reicht nicht, um die produzierten Güter alle abzunehmen - oder um die Produktionskapazitäten auszulasten. Länder wie China, Indien und andere Teile Asiens haben durch die Stimulierung des eigenen Marktes ihr Wachstum noch hoch halten können. Die hoch entwickelten Industrieländer haben das zunächst auch gemacht und damit die Erholung 2009 eingeleitet. Seit damals jedoch dümpelt ihre Wirtschaft dahin. Die Notenbanken pressen Geld und Kredit ins System, ohne nennenswerten Erfolg. Der Konsum lahmt, die Investitionen stagnieren.

Warum fühlt sich in Deutschland diese Krise - für viele, keineswegs für alle - so harmlos, ja ganz unkrisenhaft an? Aus drei Gründen: Erstens haben die in diesem Land starken Branchen (Chemie, Autos, Maschinenbau) in den großen Schwellenländern einen noch wachsenden Absatzmarkt gefunden, weshalb der Export weiter wuchs. Zweitens hat der Sozialpakt zwischen Regierung, Kapital und Gewerkschaften in der Krise die Zahl der Entlassungen beschränkt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist eine Konjunkturkrise ohne massiven Arbeitsplatzabbau erfolgt. Drittens führt die Kapitalflucht aus dem übrigen Europa in den »sicheren Hafen« Deutschland dazu, dass hierzulande das Zinsniveau sehr gering ist. Was Versicherungen jammern lässt, ist für Industrie und Handel ein enormer Kostenvorteil, der in den Bilanzen eine segensreiche Wirkung entfaltet. Der billige Kredit kommt nicht nur bei den Unternehmen an, sondern sogar beim breiten Publikum. Wer noch einen festen Job hat, kann es sich zu historisch niedrigen Zinsen leisten, einen Kredit aufzunehmen und eine Wohnung oder ein Häuschen zu erwerben. So steigen zwar die Immobilienpreise und die Mieten, was die Lage der prekär oder gar nicht Beschäftigten weiter verschlechtert. Für viele aber ist die wirtschaftliche Lage trotz Stagnation nicht schlecht. Wer die Lage rosig darstellt, wirkt daher sogar glaubhaft.

Mitten in der Stagnation ein Gewinn-Boom, mitten in der Krise freundliche Konjunkturstimmung. Das wird nicht mehr lange so gehen.

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