nd-aktuell.de / 29.11.2013 / Kultur / Seite 14

LESEPROBE

Noch heute erinnert sich Victor Fowler an das Erlebnis Mitte der Neunziger Jahre. »Im Zentrum von Havanna sah ich eines Tages, wie eine Frau das letzte, trockene Stück eines Brotes in einen Mülleimer am Straßenrand warf«, sagt der Essayist. Brot wegzuwerfen schien ihm ungeheuerlich. Zwei, drei Jahre zuvor gab es kaum etwas zu essen, als Fowler einmal monatlich zu einem Freund in den Randbezirk Arroyo Naranjo fuhr. Es war der Höhepunkt der Período especial en tiempo de paz, der »Spezialperiode in Friedenszeiten«, oder besser: ihr Tiefpunkt. »Das Beste, was ich auf diesem Weg fand, war ein Stand im Bezirk Miramar, der Zuckerwasser verkaufte, sonst nichts.« Dass nun, wenige Jahre später wieder eine Brotkante weggeworfen wurde, empörte und freute ihn zugleich: »In diesem Moment wusste ich, dass wir das Schlimmste hinter uns hatten.« ...

Die Integration des Landes in die Märkte des Südens, vor allem Lateinamerika und der Karibik, hat die wirtschaftliche Lage verbessert, zugleich ist die soziale Kluft in der Zwei-Währungs-Gesellschaft größer geworden, wie Beobachter bestätigen ... Dass die schwere Krise überwunden wurde, ohne dass der kubanische Sozialismus aus den Regierungsbüros in die Geschichtsbücher verbannt wurde, wie dies in Europa geschehen war, straft jene Lügen, die hierzulande von Kuba als der »DDR unter Palmen« sprachen und sprechen ...

Der erzwungene Rückzug des Staates auf die elementaren wirtschaftlichen Aufgaben, die Paralyse der staatlichen Institutionalität und die abrupte Abkehr vom Sowjetmodell ließen Räume entstehen, in denen die nationale Identität neu verhandelt wurde. Exponierte Vertreter des campo coltural cubano bestätigen vor diesem Hintergrund »eine neue kulturelle Dynamik, die seit den Neunziger Jahren die Öffnung neuer Räume ermöglichte«. Die neuen Freiheiten begründeten sich auch in der radikalen Abkehr von alten Verboten ... Schließlich haben neben einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwichen den kulturellen und politischen Sphären in Kuba auch neue Akteuere Eingang in die Debatten gefunden ...

All dies zeigt: Kuba ist vielschichtiger und unentdeckter, als man vermuten würde.

Aus dem Vorwort von Harald Neuber zu seiner Broschüre »Kubas unentdeckte Wende. Wie die innere Reformdebatte Fidel Castros Revolution seit 1990 verändert hat« (Peter Lang Verlag, 123 S., br., 19,95 €).