Nur nicht aufgeben

Nicht nur Menschen können scheitern, sondern auch Firmen, Klimagipfel, Bundespräsidenten und Staaten. In der Regel wird das mit Versagen gleichgesetzt und ist entsprechend verpönt. Dabei gehört es zum Leben und kann positive Folgen haben

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 6 Min.

Menschen scheitern vom Beginn ihres Lebens an. Nehmen wir nur den aufrechten Gang. Ehe das Kind die dazu notwendige Balance und Körperbeherrschung erlernt hat, wird es unzählige Male zurück auf den Boden geworfen, scheitert gewissermaßen mit seinem Plan in schneller Folge. In der Regel ist das gar kein Problem für das kleine Wesen: Es versucht, sich aufzurappeln, fällt wieder um, purzelt auf den Hintern oder die Seite, weint vielleicht kurz, startet aber unentwegt neu. Es gibt nicht auf. Eines Tages läuft das Kind ohne Hilfe und verlernt diese Fortbewegungsart nie wieder.

Der gescheiterte Erwachsene bekommt nicht so schnell eine zweite, dritte, vierte oder fünfte Chance. Muss er seine Geschäftsidee begraben und vielleicht Insolvenz anmelden, wie es 2012 immerhin 28 297 Mal in Deutschland passierte, sind die Konsequenzen für ihn erheblich. Er ist gezwungen, Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit schicken, die ihn dafür hassen. Er verliert Vermögen und sein Ansehen. Versucht er erneut, ein Geschäft zu gründen, begleiten ihn Zweifel und Misstrauen. Auch sein Selbstbewusstsein hat gelitten, und er traut sich das vielleicht gar kein zweites Mal zu. Scheitern Ehen, geht es nicht selten ebenfalls dramatisch zu. Die Konsequenzen können bitter sein und die Betreffenden ihr ganzes Leben lang begleiten. Wer das dritte oder vierte Mal heiratet, erntet kaum mehr Bewunderung, sondern meistens Unverständnis, mindestens Skepsis. Selbst ein Klimagipfel kann scheitern, wie man am jüngsten in Polen beobachten konnte. Einem Bundespräsidenten wie Christian Wulff kann das passieren, einem eloquenten Fernsehmoderator wie Jörg Kachelmann, real existierenden Ländern wie der DDR oder Griechenland, wobei die Folgen da ganz unterschiedlich ausfallen.

»Scheitern hat Hochkonjunktur«, behauptet der Österreicher Gerhard Scheucher, der sich seit vielen Jahren mit diesem gesellschaftlichen Phänomen beschäftigt, vor allem auf der individuellen Ebene. Ursachen sieht er im heutigen Bildungswesen, das den jungen Menschen zwar einzelne Inhalte vermittle, aber nicht die Fähigkeit, sich in unterschiedliche Sachverhalte einzuarbeiten, Arbeitstechniken auch in anderen Lebensbereichen anzuwenden und auf die Ausübung unterschiedlicher Professionen im Laufe des Lebens eingestellt zu sein: »Heute passiert es, dass Produkte nachgefragt werden, die tags darauf am Markt kein Mensch mehr braucht. In dieser Kurzlebigkeit von Produktzyklen oder der Verwertbarkeit von Wissen in Form von Qualifikation besteht eines der großen Scheiter-Potenziale der Gegenwart«, so Scheucher. Hinzu komme die Unterschätzung der Folgen des eigenen Handelns, der Irrglaube, in immer kürzerer Zeit immer mehr schaffen zu müssen, das Befolgen zweifelhafter Maximen wie der des vielbeschworenen Multitasking, die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Erfolge, sagt er, schrieben sich die Menschen in der Regel selbst zu; klappt es nicht so, würde schnell anderen die Schuld gegeben. Auch unzureichende Kommunikation und Koordination könnten ein Scheitern begünstigen, wie die Anekdote belegt, die Scheuchers Buch den Titel gab. Sie erzählt, wie sich in den 60er Jahren ein Mann neben den österreichischen Bundespräsidenten Franz Jonas schlich und gemeinsam mit ihm eine Militärparade abschritt. Ein Fotograf nahm den vermeintlichen Irren dabei auf und das Foto sollte auf die Titelseite der österreichischen Tageszeitung »Kurier« - mit der dazugehörigen Geschichte unter der Überschrift »Ein Irrer schreitet die Parade ab«. Allerdings hatte anscheinend niemand daran gedacht, dem Fotolaboranten ebenfalls zu erzählen, worum es hier ging. Der schnitt den unbekannten Mann neben dem Bundespräsidenten einfach ab. Wer nun vom Kurier als Irrer bezeichnet wurde, war erst zu bemerken, als die ersten Zeitungen die Druckmaschine verließen. Angeblich war dies der einzige Fall, in dem eine komplette Tageszeitungsauflage eingestampft werden musste.

Scheitern infolge mangelnder Koordination ist das Fazit von Gerhard Scheucher zu diesem Vorfall. Wäre der Mitarbeiter im Fotolabor eingeweiht gewesen, hätte alles wie geplant laufen können. Scheitern ist nicht nur ein unabwendbares Schicksal - wie etwa im Falle einer Entlassung aus Gründen, die nicht in den individuellen Fähigkeiten des Betreffenden zu suchen sind, sondern schlicht in den Absichten der Firma oder der Unfähigkeit eines Chefs. Das kann freilich auch dem Menschen widerfahren, der alles richtig gemacht hat. Schließlich scheiterten selbst geniale Erfinder. Otto Lilienthal etwa, der im 19. Jahrhundert die Grundlagen für das Fliegen schuf und bei einem seiner Flugversuche selbst den Tod fand, oder sein Zeitgenosse Philipp Reis - er hatte das Telefon zwar entwickelt, aber dessen Siegeszug als Kommunikationsmittel nicht einleiten können.

So mancher Gescheiterte indes hätte es womöglich in der Hand gehabt, sein Schicksal abzuwenden. Dem politischen Hoffnungsträger der Union Karl-Theodor zu Guttenberg kam leider seine Selbstüberschätzung in die Quere, als er in alle Mikrofone sprach, bei der Abfassung seiner Doktorarbeit nie wissentlich betrogen zu haben. Vielleicht spielte ihm hier die Intuition einen Streich, die in kritischen Situationen seit der Steinzeit das Handeln des Menschen bestimmt, wie Scheiter-Experte Scheucher schreibt. Damals hat das die Überlebenschancen vergrößert, »in unserer komplexen, beschleunigten und rückgekoppelten Lebenswelt ist dies aber oft nicht der Fall«. Auch der bedauernswert kleinkariert denkende Ex-Bundespräsident Christian Wulff befand sich wohl vollkommen auf der falschen Fährte, als er es aufgrund seines Amtes für möglich hielt, medialer Berichterstattung ausgerechnet der »Bild«-Zeitung Einhalt gebieten zu können.

Beide Männer sind bekanntlich so stigmatisiert, dass sie im eigenen Lande vermutlich nicht einmal mehr im kleinsten Sportverein die Mitgliederkartei verwalten dürften. Wer in der Gesellschaft, im Freundeskreis oder der Familie scheitert, verliert Anerkennung. Je höher der Status, desto größer der Verlust. Eine Fehlerdiskussion findet selten statt, in den Unternehmen steht sie Scheucher zufolge lediglich auf dem Papier, in der Politik werden Pleiten, Pech und Pannen gern durch die Entfernung des Verursachers aus der Welt geschafft, vertuscht oder aber so zerquatscht, dass sie einem am Ende fast als etwas Positives erscheinen. Dabei wäre eine ernsthafte Reflexion des Tabuthemas eine der »besten Voraussetzungen, um in einem zweiten oder dritten Anlauf ein gestecktes Zeil zu erreichen.« Offene Baustellen im Kopf und ungelöste Probleme, meint Scheucher, seien ein guter Nährboden für die nächste Niederlage. Fehleranalysen an Stelle von Demütigungen könnten sie dagegen verhindern.

Thomas Alva Edison, der Erfinder der Glühlampe, hatte Scheucher zufolge knapp 9000 Kohlefäden ausprobiert, ehe er denjenigen fand, der die Lampe dauerhaft zum Leuchten brachte. Seine Notizen waren übersät mit der Anmerkung »T. A.«, was nichts anderes bedeutet als »Try Again!«, »Versuch es noch mal«. »Unsere größte Schwäche ist das Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg besteht darin, immer wieder einen neuen Versuch zu wagen«, schrieb Edison, der über 2000 Erfindungen gemacht hatte, nieder. Wie säßen wir heute da, wenn dieser Amerikaner seine Glühlampenversuche nach dem 500. Versuch eingestellt hätte?

Gerhard Scheucher: Ein Irrer schreitet die Parade ab. Ibera. 169 S., 18 €.

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