Der Traum der Nestbeschmutzer

Eine neue Ausstellung über das Kriegsgefangenenlager Sandbostel

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 4 Min.

Beim Gang an den Vitrinen und Stellwänden vorbei ist Klaus Volland einfach nur glücklich. »Es hat sich gelohnt«, sagt der 68-jährige Gymnasiallehrer mit belegter Stimme. 37 Jahre nachdem er nach Bremervörde zog und zum ersten Mal etwas von den Schülern über das Lager Sandbostel hörte, gibt es zu einem der größten Kriegsgefangenenlager Nazideutschlands nicht nur eine Gedenkstätte, sondern auch eine moderne und umfassende Ausstellung.

Stalag XB Sandbostel hieß das Lager im Militärjargon. Das 35 Hektar große Areal liegt rund zehn Kilometer von der niedersächsischen Kleinstadt Bremervörde und gut zwei Kilometer vom Dorf Sandbostel entfernt. Im August 1939 hatte das Heeresbauamt Bremen die Errichtung des Lagers beschlossen, konzipiert zunächst für 10 000 Gefangene, 1940 jedoch bereits auf eine Kapazität von 30 000 Gefangenen erweitert. So zu lesen in der Ausstellung, die von einem Historikerteam um Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte, gestaltet wurde.

Der britische Militärarzt Dr. Hans Engel gehörte zu den ersten, die das am 29. April 1945 befreite Lager betraten. »Als wir das Lager endlich erreicht hatten, bot sich uns ein Bild des Grauens. Berge von Leichen fanden wir vor, mehr als siebentausend ausgemergelte KZ-Häftlinge und viele Tausend Kriegsgefangene. Die versuchten in dem Chaos zu retten, was zu retten war«, erinnerte sich der 97-Jährige im April bei seinem letzten Besuch in Sandbostel. Die britischen Befreier waren so entsetzt über die verheerenden Zustände, dass sie das Kriegsgefangenenlager Klein Belsen nannten. »In Anlehnung an das KZ Bergen Belsen. Das wurde ebenfalls von britischen Truppen befreit«, erklärt Engel. Er spricht perfekt Deutsch, weil er in Hamburg aufwuchs, aber als Jude 1935 Nazi-Deutschland in Richtung Schottland verlassen musste. Zehn Jahre später kam er mit den britischen Truppen zurück nach Norddeutschland und versuchte Menschenleben zu retten. »Die Situation war verheerend, wir haben Ärzte, Schwestern und Helfer aus der näheren Umgebung zwangsrekrutiert, um die Überlebenden zu pflegen und aufzupäppeln.«

Der rüstige Rentner, der am 23. Oktober in London verstarb, gehörte wie der Russe Sergej Litwin und der Belgier Roger Cottyn, beide ehemalige Gefangene und beide 92 Jahre alt, zu denjenigen, die sich schon früh gegen das Verdrängen und Vergessen eingesetzt haben. »Ich habe immer wieder kritisiert, dass es keine Ausstellung, kein Denkmal, keine Erinnerungsarbeit gab.« Das war Wind in den Segeln von Volland, der 1976 gemeinsam mit seinem Kollegen Werner Borgsen die Geschichte des Lagers zu erforschen begann. Die beiden schrieben die erste Monografie über ein Kriegsgefangenenlager in Deutschland. Und 1992 waren sie die treibenden Kräfte hinter der Gründung des Vereins »Dokumentations- und Gedenkstätte Sandbostel«. Die beiden wurden seinerzeit als Nestbeschmutzer angesehen. Doch sie ließen nicht locker und konzipierten eine Wanderausstellung - Vorläufer der heutigen zweigeteilten Exposition.

Während in einer Baracke die Geschichte bis zur Befreiung aufgearbeitet wird, erfährt man in einer zweiten, wie das Lager nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges genutzt wurde: zunächst als britisches Internierungslager für SS-Schergen und NS-Funktionäre, dann als Gefängnis der niedersächsischen Justiz und schließlich Aufnahmelager für junge männliche DDR-Flüchtlinge. 1974 wurde das Areal privatisiert, und 1992 der historische Baubestand unter Denkmalschutz gestellt. Ein erster Schritt, der Toten zu gedenken.

Auch im Lager praktizierten die Nazis ihren Rassismus, wie Cottyn berichtet: »Wir Belgier und Franzosen wurden gegen Typhus geimpft, die Russen aber nicht. Sie starben wie die Fliegen und ich sah morgens und abends die Wagen mit den Leichen durch das Lager fahren.« Rotarmisten standen ganz unten in der Lagerhierarchie, gefolgt von Polen; über jenen Franzosen und Belgier sowie Serben und Italiener, obenan schließlich britische Soldaten und Besatzungen von aufgebrachten Handelsschiffen. Die Mortalitätsquote bei den Rotarmisten war am höchsten. Das Gros der Verstorbenen und Ermordeten, die auf dem Lagerfriedhof liegen, stammte aus der ehemaligen Sowjetunion. »Mehr als 5162 Verstorbene sind nachweisbar, doch die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen«, erklärt Gedenkstättenleiter Ehresmann. Auf einem kurz nach dem Krieg errichteten Gedenkmal war von 46 000 ermordeten Rotarmisten die Rede. Dieses Mal wurde Mitte der 1950er Jahre gesprengt, gewiss nicht nur wegen der als zu hoch angesehenen Zahl.

Die Ausstellung dokumentiert auch die Bedeutung der Kriegsgefangenen von Sandbostel für die regionale Wirtschaft. »Ohne die Arbeitskraft der Kriegsgefangenen wären die Bauern der Region genauso wenig über die Runden gekommen wie viele Industrieunternehmen in Bremen«, erläutert Ehresmann und reibt sich das vom Drei-Tage-Bart bedeckte Kinn. Rund 650 Arbeitskommandos mit je etwa 30 Gefangenen gab es zwischenzeitlich, recherchierte der Historiker Jens Binner im Auftrag der Dokumentationsstelle. Die für die Arbeitseinsätze zuständige gigantische Verwaltung befand sich im Vorlager; viele Dokumente waren bei Anrücken der Befreier verbrannt worden.

Das Vorlager ist noch gut zu erkennen. Dort waren die Kommandantur und Desinfektion in stabilen Backsteingebäuden untergebracht - im Gegensatz zu den Gefangenenbaracken aus Holz. In der Desinfektion ist heute ein Holzhandel untergebracht. Auch andere Gebäude des ehemaligen Lagers werden von Privatunternehmen genutzt. Für Volland kein Problem. Aber dass Originalbaracken einem Militariahändler gehören, gefällt ihm gar nicht.

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