Bücher aus Glas

Kleist-Ausstellung in Frankfurt (Oder)

  • Hans-Jochen Marquardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen?» - die rhetorische Frage Heinrich von Kleists begegnet dem Besucher gleichsam programmatisch am Treppenaufgang zur neuen Dauerausstellung des Kleist-Museums. Ein halbdunkler Raum empfängt den Besucher. Leittexte an den Wänden beschränken sich auf Wesentliches. An keiner Stelle fühlt man sich von ihnen erdrückt. Aus schmalen Metallsäulen ertönen, sobald man sich ihnen nähert, raunend Kleists Worte, Sätze, Verse. Daneben liegen auf magisch-unsichtbaren Tischen zwanzig aufgeschlagene, lichtdurchflutete Bücher aus Glas.

In diesem Raum geht es um Kleists Sprache. Wortschatz, Satzbau, Zeichensetzung, Verslehre, Schriftbild und Erzähltheorie werden unverwechselbar sinnfällig, indem die Oberflächen- und die tieferen Textschichten der ausgewählten Passagen buchstäblich ins Auge fallen. Was hier geleistet wurde, ist nichts weniger als zur Anschauung gebrachte Sprachkunst Kleists, höchst geeignet, um Deutschstunden für höhere Schulklassen zu geben.

Die Ausstellung im kürzlich eröffneten Ergänzungsbau und im spätbarocken Altbau ist ungewohnt. Die Kuratorin, Barbara Gribnitz, und die Firma «Arge Panatom und szenographie valentine koppenhöfer», verantwortlich für Konzeption, Gestaltung und Projektsteuerung, haben sich entschieden, die Darstellung des Lebens und jene des Werks voneinander zu trennen. Immer wieder ist Kleists Werk von seinem Freitod aus interpretiert worden, was oft zu Überzeichnungen geführt hat. Doch Kongruenz zwischen Leben und Werk eines Autors, einer Autorin gab und gibt es höchstens näherungsweise.

Wie sehr die Ausstellung auf Konzentration und sinnliches Erleben setzt, erfährt man auch im nächsten halbdunklen Raum. Aber Vorsicht! Der Besucher betritt zwar TÜV-geprüftes, doch gleichwohl unsicheres Terrain. Ein labyrinthisch anmutender Wald aus Tonsäulen, denen sanft Kleists Hauptwerke entströmen, sobald das Ohr sich zuneigt, wurzelt in unebenem Gelände. Zur Langsamkeit erzogen, bewegt man sich tastend im Raum. Grundinformationen zu den Werken findet man an den Wänden. Drei Sitznischen laden dazu ein, Kleists Texte hörend zu verinnerlichen.

Diese sind vier Kleist›schen Kernthemen zugeordnet: Recht, Zufall, Gewalt, Identität. Leicht ließen sie sich ergänzen, etwa um das für Kleist ebenso wichtige Thema Vertrauen. Vieles bleibt notwendig offen. Die Ausstellung kontrapunktiert jede kulinarische Erwartungshaltung. Aber sind nicht auch Kleists Figuren Tastende? Auch wir können, wie Michael Kohlhaas, rechtschaffen und zugleich entsetzlich sein. Das ist Menschen möglich. Hin und wieder treffen wir, zuhörend, auf unser Spiegelbild: So sind wir.

Stunden kann man allein in diesen beiden Räumen verbringen, in denen das vollkommen Neuartige bei der musealen Vermittlung von Literatur am meisten überrascht, doch gleichwohl gefangen nimmt. Wer Vertiefendes zu Kleists Leben und Werk erfahren möchte, ist gut beraten, einen der Tablet-Computer mit auf den Rundgang zu nehmen. Dessen Benutzung ist kostenlos, jeder Bedienungsschritt ist selbsterklärend. In einem Punkt besteht Nachbesserungsbedarf: Endlich ist es Rollstuhlfahrern möglich, das Kleist-Museum auch außerhalb des Erdgeschosses zu besuchen, doch im Säulenwald des «Werk»-Raums können sie sich nur sehr eingeschränkt bewegen.

Der zweite Teil der Ausstellung, im Altbau, ist Kleists Leben gewidmet. Alle Fenster verweigern das Tageslicht. Fünf Räume nähern sich den Themen «Tradition», «Liebe und Bildung», «Stationen», «Schriftstellerleben» und «Tod». Rätsel, Kämpfe, Brüche und Sinnfälligkeit auch überall hier. So werden etwa Zeugnisse von Bildungserlebnissen Kleists durch eine stilisierte Laborapparatur miteinander verbunden, die sogar Kleists Beziehung zu seiner Braut Wilhelmine von Zenge umfasst, denn er trat ihr auch als pädagogischer Experimentator entgegen. Die Struktur der Ausstellung verweist allenthalben auf ihre Funktion: Alles, was unsere Sinne sehend, hörend und tastend erfassen, kann zur Sprache und so zu Bewusstsein gebracht werden - schiefe Ebenen, Spiegelbilder oder Apparaturen.

Äußerst berührend ist der Aufenthalt in Kleists Todesraum. Umfangen von einem Fotopanorama der Umgebung jener Stelle am Kleinen Wannsee, an der Kleist und Henriette Vogel aus dem Leben schieden, ertönt leise der überlieferte Bericht von Friderique Stimming, der Wirtin des «Neuen Krug», in dem die beiden Sterbewilligen ihre letzte Nacht zubrachten. Wenige Dokumente fügen sich in das Bild, auch Originalfabrikate von Schusswaffen, wie sie Kleist an jenem 21. November 1811 benutzt hat.

Es gehört Mut dazu, sich bei der Gestaltung einer Dauerausstellung gegen die Präsentation von Sammlungsbeständen zu entscheiden. Wechselausstellungen können und müssen das kompensieren. Das kleistische Wagnis, neue Wege zu beschreiten, verdient ausdrückliche Würdigung. Kontroversen sind dieser Ausstellung eingeschrieben.

Kaum jemand wird das Haus als jener verlassen, als der er es betreten hat. Mehr kann eine Ausstellung nicht leisten.

Kleist-Museum Frankfurt (Oder), Faberstraße 6-7,15230 Frankfurt (Oder), Tel.: +49-(0)335-53 11 55. Geöffnet: Di-So 10-18 Uhr. www.heinrich-von-kleist.org/kleist-museum

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