Verschmitzte Weisheit

Helmut Richter zum 80.

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 3 Min.

Da macht sich ein Schriftsteller ein Geburtstagsgeschenk mit einem ganz eigenen Büchlein: Einhundert Kleinststrophen auf einhundert Seiten. Sie folgen einem irischen Vorbild von Anfang des 19. Jahrhunderts, der volkstümlich skurrilen Dichtung um Stadt und Grafschaft Limerick. Ein solcher Minimalismus - fünf Verse in festem Reimschema auf einer Seite - bedurfte der Hilfe. Und die kam dem Autor in Gestalt des Illustrators Egbert Herfurth, der in staunenswerter Fantasie jeder Strophe Form und Bildlichkeit schenkte, und des Verlegers Elmar Faber, der als Erster seinen Spaß an den Einfällen gehabt und abermals einem Buch die gemäße Gestalt erdacht haben mag.

Entstanden sind diese Limericks, so erzählt Richter im launigen Vorwort, im Laufe von Jahren als »Tagebuchnotiz, als Mini-Notat, als Schnappschuss«. Das erste verdankte er einem Erlebnis - wahr oder gut erfunden: Sitzend im Straßencafé vor dem Bachdenkmal der Leipziger Thomaskirche, sieht er: »Ein Mann verneigt sich übertrieben tief vor dem Kantor, sagt etwas zu seiner Frau, und dann lachten sie beide und umarmten einander.« Den Witz, dem Alltäglichen entnommen, dem Politischen, dem Erotischen, verdankt die Strophe oft dem Doppelsinn eines einzigen Wortes. Obige Szene hat die Überschrift KONGENIAL: »Vor dem Bachmonument in Leipzig / Steht ein Ehemann und verneigt sich, / Und erklärt seiner Frau: /›Auch Bach wusste genau, / Wer die Fuge liebt, der beweibt sich.‹« Solches steht werbend gar auf dem blauen Buchdeckel! (J. S. Bach hätte wohl gelacht ...)

Wie für den heutigen Tag geschrieben, doch sicher älter: KOALITIONSZWANG: »Früher war das Koalieren / Die Absicht, gemeinsam zu regieren. / Doch das war einmal. / Heute bedenkt man die nächste Wahl/ Und übt sich im Intrigieren.« Oder diese eindeutige Adresse: KONFESSIONSSCHWUND? »Wir haben das Mädchen in Leipzig studieren lassen / Und dachten später, sie würde nur spaßen, / Denn ihr marktkonform / Als Demokratie vernichtende Norm, / Wirkte, als habe sie Gott verlassen.«

Man amüsiert sich, wird nachdenklich, ist betroffen. Einhundert Mal!

Helmut Richter, freischaffend seit 1964, hat Reportagen geschrieben, Hörspiele, Erzählungen und immer wieder Gedichte. Er leitete nach Georg Maurer das Lyrik-Seminar der »Poetenschule«, gründete 1982 die bis heute erscheinenden »Leipziger Blätter« und rettete als letzter Direktor, 1990-92, dieses Unikat der Autorenausbildung, nun »Deutsches Literaturinstitut Leipzig« genannt.

Wer weiß es oder wusste es nicht? Helmut Richter schrieb in den siebziger Jahren den zum Welthit gewordenen Song »Über sieben Brücken musst du gehn«. Vertont, in über 30 Sprachen übersetzt. Glückwunsch zu diesem Leben und zu diesem Werk!

Helmut Richter: »... wer die Fuge liebt, der beweibt sich«. Hundert Limericks mit hundert Illustrationen von Egbert Herfurth. Faber & Faber, Leipzig 2013, 115 S. , geb., 14 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal