Sigmar Gabriel ist in einer bequemen Lage. Sollten sich die SPD-Mitglieder bei ihrer Abstimmung für eine Regierungsbeteiligung aussprechen, kann er an die rot-schwarze Koalition von 2005 bis 2009 anknüpfen. Wenn sie sie ablehnen, kann er Verhandlungen mit den Grünen und der Linken aufnehmen und sich dabei auf die demokratische Entscheidung der Mitglieder berufen. Kein anderer deutscher Politiker hat gegenwärtig mehr Optionen als der SPD-Parteichef.
Da ist ein zutiefst sozialdemokratischer Koalitionsvertrag ausgehandelt worden. Wenn die SPD-Basis dem nicht zustimmt, ist ihr nicht mehr zu helfen. Dennoch fürchtet die Spitze von Schwarz-Rot jetzt das Mitgliedervotum der SPD. Die Genossen an der Basis bleiben unberechenbar.
Bisher gab es noch kein innerparteiliches Plebiszit in Deutschland zu einem Koalitionsvertrag. Niemand weiß heute, wie das Ergebnis sein wird. Klar ist jedoch, dass im Fall, dass die SPD-Basis »Nein« sagt, nicht nur die Konstruktion der gegenwärtigen Regierung zusammenstürzt, sondern sich auch die SPD bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Anderes Land - aber vor allem eine andere Linke. Wenn die Koalition in Deutschland niemanden schockiert, dann weil die SPD vor einem halben Jahrhundert ihre ideologische Häutung vollzogen hat, der sich die französischen Sozialisten immer noch widersetzen.
Für ausländische Beobachter mutet es kurios an, mit welcher Detailversessenheit die deutschen Parteien ihre Koalitionsverträge aushandeln, als seien diese notariell beglaubigte Rechtsdokumente und nicht letztlich unverbindliche politische Absichtserklärungen. So blieb auch von den hochgemuten Vereinbarungen der schwarz-gelben Vorgängerregierung im Alltag nicht viel mehr übrig als ein Haufen Papier. Selbst in Deutschland lässt sich die Zukunft nicht bis zur fünften Stelle hinter dem Komma planen.
Schon jetzt wird der Koalitionsvertrag dafür kritisiert, ohne Vision und klare Richtung zu sein. Besonders groß ist die Empörung in den Reihen der Sozialdemokraten. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass die meisten in der SPD bereit sind, Verantwortung dafür zu übernehmen, Deutschland in einer parlamentarischen Situation wie dieser steuerbar zu machen.
Manche werden vielleicht finden, dass die deutsche Politik damit langweiliger wird. Aber für den Rest Europas ist Stabilität in Deutschland ein großer Vorteil. Drama und Krise haben wir sowieso schon genug.
Die SPD sprach sich einst für Eurobonds aus. Als Regierungspartei wird sie jetzt aber nichts an der bisherigen deutschen Linie ändern. Damit fehlt es an Rezepten zur Lösung der Krise, die über das übliche deutsche Spardiktat hinausgehen.
Nachdem sich nun die Deutschen trauen, europäische Nachbarn zu melken, ist die Gefahr sehr groß, dass eine Mautwelle durch Europa rollt. Noch mehr Länder als nur Deutschland dürften der Versuchung nicht widerstehen können, ausländische Straßenbenutzer zu schröpfen. Von der Europäischen Kommission könnte ein starker Konter erwartet werden, um die Mautpläne zu verhindern. Doch Brüssel ist bislang noch auffällig still. Mautvignetten sind die Axt an der Wurzel der Europäischen Union und schaden der Vereinigung.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/916663.grosse-koalition.html