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Das konservative Rollback

David Foster Wallace’ kafkaesker Bürokratie-Roman »Der bleiche König« blieb unvollendet - und ist auch deshalb genial

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

An seinem letzten großen, unvollendeten Roman soll David Foster Wallace über zehn Jahre gearbeitet haben, bevor er sich 2008 das Leben nahm. Als Gegenstand des epochal angelegten posthum erschienenen Epos, von dem jetzt 600 Seiten in deutscher Übersetzung vorliegen, hat sich der US-amerikanische Ausnahmeschriftstellers den »Internal Revenue Service« (IRS), also die Bundessteuerbehörde der USA vorgenommen. In »Der bleiche König«, so der Titel, sind zwar lediglich Textfragmente versammelt, aber der aus zahlreichen Einzelepisoden bestehende und ausufernde Roman über die US-Steuerbürokratie der 80er Jahre ist nichtsdestotrotz ein geniales Stück Literatur.

Mehr als 100 000 Mitarbeiter umfasst der »Internal Revenue Service«. Verschwörungstheoretikern gilt die mit weitreichenden Konsequenzen ausgestattete Behörde als das eigentliche Herz der Regierung. »IRS-agents« tragen bei David Foster Wallace wie auch in zahlreichen Hollywoodfilmen, wo sie regelmäßig auftauchen, dunkle Anzüge und Sonnenbrillen - genauso wie FBI-Agenten. In »Der bleiche König« geht es um eine Steuerprüfbehörde in Peoria, einer Kleinstadt in Illinois. Erzählt werden die Biografien der Mitarbeiter, ihr familiäres Umfeld, die High-School-Zeit, das Studium, ihr Weg in die Steuerbehörde und vor allem der Arbeitsalltag.

Neben langen Rückblenden, die an einigen Stellen novellenartigen Charakter besitzen, gibt es dialogreiche Abschnitte und fingierte Interviews mit Mitarbeitern der Behörde.

Statt einer Hauptfigur bevölkert ein ganzes Ensemble von IRS-Mitarbeitern den kafkaesken Bürokratie-Roman. Das reicht von David Cusk, der an unkontrollierbaren Schweißausbrüchen leidet, über Toni Ware, die aus einer sozial verwahrlosten Familie stammt, Leonard Stecyk, der schon in der Schule als nervtötender Gutmensch und Ordnungsfetischist auffiel und Claude Sylvanshine, der bei IRS in Peoria Personalkürzungsoptionen prüft, bis hin zu dem 20-jährigen David Wallace, der an einer massiven Hautkrankheit leidet und bei seiner Ankunft in der Behörde aus Versehen für einen hochrangigen Steuerprüfspezialisten gehalten und mit allen Ehren willkommen geheißen wird. David Foster Wallace entwirft ein umfassendes gesellschaftliches Panorama, wobei vordergründig in der Steuerbehörde selbst nur wenig geschieht.

Der bürokratische Apparat dient vielmehr als verbindendes Element der unterschiedlichen Figuren, deren psychologische und biografische Eigenheiten dramaturgisch bis ins kleinste Detail dargestellt werden. Wie der Autor selbst notierte: Den ganzen Roman über »droht etwas Großes zu passieren, es passiert dann aber nicht«.

Einige Arbeitsnotizen des Autors finden sich am Ende des Buches und gewähren dem Leser einen faszinierenden Einblick in Foster Wallace’ literarische Schreibwerkstatt. »Der bleiche König«, so heißt es dort auch, ist eine »Abfolge von Vorbereitungen auf Geschehnisse, aber es geschieht nie etwas«. Insofern entspricht der fragmentarische Charakter des unvollendeten Buches ein Stück weit seiner formalen und inhaltlichen Grundidee. Zusammengehalten wird dieses epische Werk auch durch die detaillierte Beschreibung der behördlichen Arbeitswelt im Wandel der Zeit angesichts der einsetzenden Digitalisierung Mitte der 80er.

Aber auch Ronald Reagans legendäre Steuerreformen als Grundbausteine neoliberaler Wirtschaftspolitik spielen eine Rolle. »Reagan wird uns als den habgierigen Big Brother mit Schlapphut anprangern, den er insgeheim braucht. Wir - die schmallippigen Buchhalter in grauen Anzügen und mit dicken Brillengläsern, die nur auf ihre Addiermaschinen eintippen - werden der Staat: die Autorität, die jeder hasst.«

Die Steuerprüfer sollen möglichst effizient arbeiten, profitable Revisionen vornehmen und sich selbst als »Geschäftsmänner« verstehen. Das gesamte Arbeitsethos der Behörde wird so von einer alles durchdringenden Ökonomisierung geprägt. Es geht nicht mehr wie in alten Zeiten um die Moral des Steuerzahlens, sondern um Strategien der Ertragsmaximierung.

David Foster Wallace exerziert so das konservative Rollback der 80er Jahre durch. Besonders deutlich wird das an der Biografie des Steuerprüfers Chris Fogle. Bevor er zum »Service« kam, war er ein Rebell, nahm Drogen, beteiligte sich an Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen und verkörperte die fortdauernde Revolte der 68er. Im legendären Winter 1979 in Chicago, der wochenlang den Verkehr lahmlegte und die Metropole in eine Eiswüste verwandelte, wird aus dem Hippie, dessen Vater bei einem Unfall ums Leben kommt, ein braver US-Bürger, der sich im dunklen Anzug dem kapitalistischen Arbeitsethos, der Effizienzmaximierung und dem staatlichen Machtapparat unterordnet. Er wird zur Jahreswende 1979/80 vom herrschenden System schlicht absorbiert.

Insofern ist David Foster Wallace’ letzter, unvollendeter Roman vielleicht auch sein politischster - eine komplexe literarische Herrschaftskritik, die jene gesellschaftliche Zeitgeschichte des neoliberalen Aufbruchs freilegt, die auch unsere heutigen Biografien mitgestaltet.

David Foster Wallace: Der bleiche König. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Kiepenheuer und Witsch, 620 S., geb., 29,99 €.

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