nd-aktuell.de / 06.12.2013 / Kultur / Seite 16

Die Kriegsschuldfrage

LESEPROBE

Der Große Krieg von 1914 bis 1918 war nicht nur die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie ihn der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan bezeichnet hat, sondern auch das Laboratorium, in dem fast alles entwickelt worden ist, was in den Konflikten der folgenden Jahrzehnte eine Rolle spielen sollte: vom strategischen Luftkrieg, der nicht zwischen Kombattanten und Nonkombattanten unterschied, bis zur Vertreibung und Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen, von der Idee eines Kreuzzuges zur Durchsetzung demokratischer Ideale, mit der die US-Regierung ihr Eingreifen in den europäischen Krieg rechtfertigte, bis zu einer Politik der revolutionären Infektion, bei der sich die Kriegsparteien ethnoseparatistischer, aber auch religiöser Strömungen bedienten, um Unruhe und Streit in das Lager der Gegenseite zu tragen. Der Erste Weltkrieg war der Brutkasten, in dem fast all jene Technologien, Strategien und Ideologien entwickelt wurden, die sich seitdem im Arsenal der politischen Akteure befinden. Schon deswegen lohnt sich eine sorgfältige Beschäftigung mit diesem Krieg ...

Die politische wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg war in Deutschland lange Zeit durch die Kriegsschuldfrage geprägt: In den zwei Jahrzehnten nach 1919 bemühte sich die deutsche Öffentlichkeit und Politik, den Artikel 231 des Versailler Vertrags zurückzuweisen, der die Alleinschuld des Deutschen Reichs feststellte; in den Jahrzehnten nach der Fischer-Kontroverse (»Griff nach der Weltmacht«, 1961; d. Red.) hingegen wurde diese Schuld allgemein akzeptiert - auch in der Bundsrepublik und nicht nur in der DDR, wo dem Deutschen Reich immer eine erhebliche Mitschuld am Krieg zugewiesen worden ist, freilich mit dem Hinweis verbunden, dass nicht nur das Deutsche Reich eine imperialistische Politik betrieben habe. Insofern waren die Thesen Fritz Fischers, die den Deutschen die Hauptschuld am Krieg anlasteten, um einiges radikaler als die der offiziellen DDR-Historiographie. Erst in den letzten Jahren hat man in Deutschland die Perspektive erweitert und die Pläne und Aktionen, Annahmen und Ziele aller in den Krieg verwickelten Mächte miteinander verglichen und dabei nicht mehr bloß nach der »Schuld« gefragt, sondern nach der jeweiligen politischen und moralischen »Verantwortung« für den Kriegsausbruch und nach den Gründen für die lange Dauer des Konfliktes.

Aus Herfried Münkler »Der Große Krieg. Die Welt 1914 -1918«. Rowohlt. 924 S., geb., 29,95 €.