Die Sorgen eines Vollzeit-»Carers«

In Großbritannien werden Menschen, die Angehörige zu Hause pflegen, zunehmend finanziell bestraft

  • Christian Bunke, Manchester
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Austeritätspolitik der Regierung Cameron bekommen vor allem jene Briten zu spüren, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Dazu zählen häusliche Pfleger.

Peter Jones ist ein »Carer«, wie weitere 6,5 Millionen Briten. Jeder achte Einwohner des Vereinigten Königreichs pflegt zu Hause mindestens einen schwer kranken oder behinderten Angehörigen. »Ich kümmere mich sowohl um meine Frau als auch um meinen Sohn«, erzählt Peter Jones, der etwa 30 Kilometer südwestlich von Manchester in der Kleinstadt Rottram lebt. »Meine Frau hatte schon ihr ganzes Leben lang Rückenprobleme. Nachdem wir über Jahre hinweg die Ärzte bedrängten, gab es endlich eine Diagnose: degenerative Wirbelsäulenerkrankung.« Der Sohn leidet unter schwerer Dys-praxie, also einer lebenslangen Koordinations- und Entwicklungsstörung. »Es fällt ihm sehr schwer, sich zu bewegen. Ich muss ihm selbst beim Gang auf die Toilette helfen.«

Häusliche Pflege ist zeitintensiv. Peter Jones wendet bis zu 80 Stunden pro Woche dafür auf. »Neben der Pflege selbst ist da auch die ganze Hausarbeit dabei, Einkäufe und so weiter.« Daneben noch einer Lohnarbeit nachzugehen, ist schwer bis unmöglich: »Ich habe alles versucht. Doch Arbeitgeber wollen dich nicht einstellen, wenn sie merken, dass man sich vielleicht etwas mehr frei nehmen muss als andere Menschen. Da gibt es einfach keinerlei Flexibilität. Ein Jahr lang habe ich in einem Job mit sehr langen Arbeitszeiten gearbeitet. Aber es war unmöglich, das aufrecht zu erhalten. Meine Familie brach um mich herum zusammen. Deshalb bin ich seit 2005 Vollzeit-›Carer‹.«

Peter Jones’ Geschichte steht stellvertretend für viele. Laut Gesetz können häusliche Pfleger bei ihrem Arbeitgeber flexible Arbeitsarrangements beantragen. Es gibt jedoch keinen Rechtsanspruch, wie die offizielle Auskunft des staatlichen Gesundheitssystems NHS erläutert: »Es ist wichtig zu wissen, dass Arbeitgeber diesen Aufforderungen nicht nachkommen müssen. Sie müssen jedoch geschäftliche Gründe angeben, um einen Antrag auf flexible Arbeitszeiten abzulehnen.«

Aber geschäftliche Gründe sind schnell gefunden: Das Benutzerforum der NHS-Webseite ist voll mit Geschichten von »Carers«, denen auf der Arbeit Steine in den Weg gelegt wurden. So schreibt Chris Gwynne: »Das Gesetz ist einfach nicht auf unserer Seite. Ich hatte bereits drei Zusammenbrüche wegen des stän- digen Mobbings meiner Chefs. Schlussendlich wurde ich krank und habe deshalb gekündigt. Die Gewerkschaft war, ehrlich gesagt, nicht sehr hilfreich.« Wer in Großbritannien selbst seine Arbeit kündigt, erhält für drei Monate kein Arbeitslosengeld.

»Carer« und ihre Familien sind daher armutsgefährdet. »Wenn ich alle Sozialleistungen zusammenrechne, haben wir für die Pflege 1500 Pfund (rund 1800 Euro) im Monat. Klingt viel, ist es aber nicht. Vieles wird durch Preissteigerungen aufgefressen. Mein Sohn zerbricht oft Gegenstände. Die müssen wir ersetzen. Die Regierung hat die Mehrwertsteuer erhöht. Das hat uns hart getroffen. Da können wir es uns manchmal gar nicht leisten, zerstörte Gegenstände zu ersetzen.«

Früher, erklärt Jones, waren die meisten Sozialleistungen an die Inflation gekoppelt. Die Regierung hat das abgeschafft. Und nicht nur das: »Ich brauche ein Auto für Besorgungen. Auch hier gab es früher staatliche Hilfen, die jetzt gestrichen sind. Diesel kostet auch immer mehr. Wenn man alles zusammenzählt, wird es fürchterlich.«

Dies ist die Schattenseite der Politik der konservativ-liberalen Regierung von Premier David Cameron. Doch dieser ist stolz darauf: »Die Austeritätsmaßnahmen, die unsere Regierung ergriffen hat, müssen nun für immer Bestandteil der britischen Politik sein. Nie mehr darf eine Regierung mehr ausgeben, als sie einnimmt«, so die Kernaussage Camerons bei seiner jüngsten Regierungserklärung.

Für viele klingt das längst wie eine Drohung: Nach Berechnungen der Organisation »The Hardest Hit«, eines Zusammenschlusses von Sozialinitiativen, mussten Menschen mit Behinderungen sowie deren Angehörige seit dem ersten Kürzungsbudget der Regierung Cameron im Jahr 2010 Einkommenseinbußen im Umfang von 500 Millionen Pfund (rund 600 Millionen Euro) hinnehmen. Diese Berechnungen stammen aus dem Jahr 2012. Seitdem ist die Summe noch deutlich angewachsen.

»Behinderte Menschen und ihre Familien«, heißt es in dem Bericht von »The Hardest Hit«, »sehen sich einem permanenten Belagerungszustand ausgesetzt.« Peter Jones kann ein Lied davon singen. »Die Regierung hat neue Formen von Beihilfen geschaffen, die in Wirklichkeit Kürzungen sind. Jetzt muss jede Familie mit dem System streiten, um die Krümel zu bekommen, die uns noch zustehen. Sie können sich den Stress, den das für die Betroffenen bedeutet, gar nicht vorstellen.«

Hunderttausende pflegebedürftige Behinderte müssen sich in Großbritannien Tests zur Feststellung ihrer Arbeitsunfähigkeit unterziehen. Diese werden im Auftrag der Regierung von der Gesundheitssparte des Dienstleistungsunternehmens Atos durchgeführt. Diese Tests wurden von einer medialen Propagandakampagne begleitet, die unterstellt, behinderte Menschen seien arbeitsscheu und würden den Steuerzahlern auf der Tasche liegen. Dennoch gibt es scharfe Kritik an den Atos-Tests auch aus der Ärzteschaft. Sogar in einem Regierungsbericht werden diese als »fehlerhaft« bezeichnet.

Peter Jones und seine Familie waren davon noch nicht betroffen, wohl aber von den Auswirkungen behindertenfeindlicher Propaganda. »Man hat unser Auto zerstört und wir wurden in den letzten Jahren oft verbal beschimpft«, berichtet er. »Früher hat es so etwas nie gegeben. Wenn man ein ›Carer‹ oder ein Mensch mit Behinderungen ist, fühlt man sich sowieso schon isoliert. Die Kürzungen und die Medienhetze gegen die Betroffenen haben alles zehn Mal verschlimmert. Man fühlt sich einfach dauernd unter Beobachtung. Die Sicherheit, die wir früher in der Nachbarschaft gespürt haben, ist weg.«

Doch viele Menschen, die häusliche Pflege benötigen, werden nun auch finanziell bestraft. Wer in Sozialwohnungen lebt und nicht alle Räume ausnutzt, muss die sogenannte Bedroom Tax entrichten. Das kann etwa der Fall sein, wenn ein Extra-Schlafraum für einen eigentlich nicht in der Wohnung lebenden Pfleger als Übernachtungsmöglichkeit bereitsteht. Nach neuer Gesetzeslage können Stadtverwaltungen in einem solchen Fall Beihilfen einbehalten oder die Betroffenen zu einem Umzug in kleinere Wohnungen zwingen.

Auch Peter Jones macht sich darüber Gedanken. »Bisher hat es uns nicht direkt betroffen. Das kann aber passieren, wenn mein ältester Sohn zu studieren anfängt und sein Zimmer dann frei wird. Meine Mutter hat das schon durchgemacht. Wegen der ›bedroom tax‹ musste sie ihr sehr schönes Zwei-Zimmer-Häuschen verlassen und in eine Einzimmerwohnung ziehen. Das hat meinen Stiefvater fertig gemacht. Er hatte einen Zusammenbruch, war sechs Monate im Krankenhaus. Jetzt muss meine Mutter ihn pflegen.«

Peter Jones sieht sich als politischen Menschen. »Ich habe leider nicht die Zeit, mich an Kampagnen gegen die Regierung zu beteiligen. Aber jeder hat meine volle Unterstützung, der dazu beiträgt, diese Bastarde zu stürzen.« Dazu wünscht er sich mehr Elan von der Arbeitnehmerbewegung. »Die Gewerkschaftsmitglieder an der Basis kämpfen ja. Aber von der Spitze kommen nur Worte, wenig Taten. Die warten auf einen Labour-Wahlsieg, dabei hat schon die Labour-Regierung bei behinderten Menschen gekürzt. Was wir brauchen, ist eine politische Alternative zu dieser ganzen Politik.«

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