Die sprachlosen Städte

In ihrem Buch »Die City« erkundet Hannelore Schlaffer unsere sich verwandelnden Innenstädte

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Geschichte, die Hannelore Schlaffer in ihrem neuen Buch erzählt, beginnt in Paris, zu der Zeit, als man dort die Stadtmauer schleifte. Von nun an wuchs die Stadt, und das wuchernde Gebilde war mit einem Blick nicht mehr zu erfassen. Geschriebene Stadterkundungen, die der Unübersichtlichkeit beizukommen versprachen, erlebten eine gewaltige Nachfrage. Louis-Sébastian Merciers Notizen über das Pariser Stadtleben, verfasst im 18. Jahrhundert, waren ein Verkaufsschlager. In Merciers Folge erkundeten Honoré de Balzac und Charles Baudelaire Paris, Charles Dickens London, Franz Hessel und Siegfried Kracauer Berlin, Frankfurt, München. Die Stadtliteratur brachte das Straßenleben zur Sprache: Boulevards, Passagen, Theater - vor allem auch all jene von der Großstadt hervorgebrachten neuen Tätigkeiten und Typen. Früher gehörten der Stadtschriftsteller und der lesende Bürger zusammen. Der eine beobachtete und beschrieb die städtische Gesellschaft und ihre Entwicklung, der andere las darüber. Gemeinsam erzeugten sie Öffentlichkeit, machten die Stadt zum Ort kollektiver politischer Reflexion.

Damit ist es heute vorbei. In der neuen Innenstadt, beobachtet Hannelore Schlaffer, dominieren andere Leitbilder. Etwa das des vielbeschäftigten Managers, den viele Citybesucher nachahmen: »Sie geben unentwegt Signale über den Ort, an dem sie sich gerade befinden, wann sie wo wieder verfügbar seien, wann sie wieder Aufträge entgegennehmen können. Diese Bereitschaft richtet sich nicht nur auf Geschäfte, die einen finanziellen Erfolg versprechen. Auch Schüler kopieren und übertreiben das Geschäftsgebaren der Manager und machen ihr Herz zum Umschlagplatz, über dessen Hausse und Baisse unentwegt Nachricht gegeben werden muss. Jeder Sitz- und Stehplatz in der Stadt, und nicht nur darunter, wird als Station benutzt. Der Mensch behandelt sich selbst wie eine Ware, die nicht zu lange lagern darf.« Wo jede Minute vom Terminkalender bestimmt ist, hat niemand Zeit, bei einer tiefschürfenden Lektüre zu verweilen.

Die City ist so ziemlich das Gegenteil der alten Bürgerstadt. Die städtebauliche Planung liegt auch gar nicht mehr in Händen der Stadt und ihrer Verwaltungen, sondern in denen von Investoren. Die agieren überregional, interessieren sich nicht für Eigenheiten, Geschichte, Eigenständigkeit einer Stadt. Eine Folge: Die City ist nicht ein Ort für ihre Bewohner, sondern für Kunden spezieller Art: für Touristen und für Angestellte, die es in ihren Pausen nicht nach Hause schaffen. Ein andere Folge, europaweit zu beobachten: Die Städte verlieren ihr in Jahrhunderten gewachsenes individuelles Gepräge, ihr Gesicht. »Ob es nach Brüssel geht oder nach Oldenburg - es ist wie verhext: der Neugierige kommt immer wieder zu Hause an, bei H&M, Diesel, Boss, Habitat, bei Starbucks und McDonalds.«

Hannelore Schlaffer hat ihre Stadtlust keineswegs verloren. Als zeitgenössische Erbin der großen Flaneure erkundet und beschreibt sie, wie die neuen Innenstädte beschaffen sind, würdigt auch ihre angenehmen Seiten: das ungemein breite Konsumangebot, die zahlreichen friedlichen Feste. Zu ihren vielen Entdeckungen gehört die, dass es eine Symmetrie zwischen Körperlichem und Architektonischem gibt. All die Angestellten, welche die City bevölkern, kämen gut mit dem dort feilgebotenen, fetthaltigen Fast Food zurecht. Der Grad ihrer Schlankheit spiegele sich in der City-Architektur: Je höher die Gebäude, desto geringer der Leibesumfang der in ihr Beschäftigten.

Klassenverhältnisse? Gibt es nach wie vor. Da aber alle als Kunden willkommen sind, macht man jeglichen Ausdruck von Herrschaft oder Rangunterschied möglichst unsichtbar. Die Innenstädte sind ein einziger Schauraum, ein permanentes Verheißen und Frohlocken, das darüber hinwegtäuscht, dass dies kein Hort der Freiheit, sondern ein System aus Abhängigkeiten, totaler Vermarktung und Kontrolle ist.

Die Größe von Hannelore Schlaffer macht aus, dass sie ein schärferes Licht auf die Menschen der Stadt wirft als diese auf sich selbst - und zugleich mit literarischen Mitteln eine Ideal- oder Traumstadt konturiert. Die Autorin räumt in ihrem Buch nämlich all jenen kritischen Reflexionen und aufklärerischen Blicken in die Geschichte schön viel Platz ein, die man aus den Cities hinausgedrängt hat und hinausdrängt.

Hannelore Schlaffer: Die City, Klampen-Verlag, 160 S., geb., 18 €.

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