nd-aktuell.de / 18.12.2013 / Kommentare / Seite 4

Üble Nachrede gegen Willy Brandt

Albrecht Müller über das Vermächtnis eines großen Sozialdemokraten - und die bis heute anhaltende Treibjagd gegen ihn

Albrecht Müller

Willy Brandt wird in diesen Tagen viel gefeiert. Über wichtige mit ihm verbundene Fragen wird dabei nicht viel gesprochen und vermutlich auch nicht nachgedacht.

Zum Beispiel nicht über die Frage, warum er nur viereinhalb Jahre Bundeskanzler war. Angela Merkel regiert schon acht Jahre, Kohl war 16 Jahre im Amt. Warum Brandt so kurz? War er wirklich vor allem das Opfer des DDR-Spions Guillaume im Kanzleramt? Auch, aber Willy Brandt war zur Zeit der Entdeckung des Spions schon angeschlagen, er wurde das Opfer einer Treibjagd einer ziemlich bunten Jagdgesellschaft. Dazu gehörten selbstverständlich die CDU/CSU, dann Leute mit viel Geld, die zwei Jahrzehnte direkten Zugang zu den von der CDU gestellten Kanzlern genossen hatten und die Wahl Brandts zum Kanzler im Jahr 1969 korrigieren wollten; dann gehörten zu den Jägern rechtsnationale Kreise, denen Brandts Flucht vor Hitler nach Norwegen schon nicht schmeckte und denen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Versöhnung mit dem Osten nicht passte; und dann gehörten zur Jagdgesellschaft innerparteiliche Kreise um Wehner und Schmidt. Helmut Schmidt hielt sich für den besseren Kanzler, was ihm nicht zu verargen ist; er wollte selbst an die Macht.

Über die im Ergebnis gemeinsame Treibjagd dieser verschiedenen Kräfte wird nicht offen gesprochen. Ich tue es in meinem Buch und halte dies für nötig, weil auch Brandt ein Stück Fairness und ein gerechtes Urteil verdient, und weil nur dann unbefangen darüber geredet werden kann, was wir heute von ihm lernen könnten.

Nicht offen gesprochen wird bei den Jubiläumsfeiern auch über die üble Nachrede, der Brandt zeitlebens und weit über den Tod hinaus ausgesetzt ist. Sie nannten ihn und nennen ihn immer noch einen »Teilkanzler«, er habe sich nur für Außenpolitik interessiert. Dieser Quatsch hält sich in den Geschichtsbüchern, obwohl Brandt in der Umweltpolitik, in der Sozialpolitik, bei der Integration der protestierenden Jugend, mit einem Programm zum Energiesparen und vor allem mit seiner Offenheit und Liberalität Zeichen in der Innenpolitik gesetzt hat. Es wird behauptet, Brandt sei nur in der Ostpolitik erfolgreich gewesen und nicht in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Auch das ist unwahr. In der Regierungszeit Brandts stiegen die Einkommen der Lohnabhängigen, messbar in der so genannten Lohnquote, wie nie zuvor und danach. Die Wirtschaft florierte. Real haben in Brandts Regierungszeit alle gewonnen - Arbeiter, Rentner, Selbstständige und Unternehmen. Das hat sein Nachfolger Schmidt drei Wochen vor dem Kanzlerwechsel in einem umfangreichen Papier festgehalten.

Sie nennen ihn einen Zauderer, weil er des Nachdenkens fähig war. Sie sprechen deshalb auch von »Willy Wolke«. Und sie verbreiten bis heute, Brandt sei depressiv gewesen. Diese Erfindung einer krankhaften Schwäche ist besonders wirkungsvoll und widerwärtig, weil man sich gegen eine solche Unterstellung kaum wehren kann und weil natürlich viele Menschen denken mussten: O Gott, einen depressiven Kanzler kann sich unser großes Land wirklich nicht leisten.

Der tote Willy Brandt kann sich gegen derlei Unterstellungen nicht mehr wehren. Auch deshalb habe ich das Buch geschrieben. Es ist mein Geburtstagsgeschenk für den Hundertjährigen. Das Buch heißt »Brandt aktuell«, weil Brandts Vermächtnis aktuell geblieben ist.

In seiner ersten Regierungserklärung sagte Brandt 1969: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein im Innern und nach außen.« Das galt auch für die Menschen in Osteuropa, die bis dahin unter dem Generalverdacht der westdeutschen Politik und Medien standen, dass sie alle schlimme Kommunisten sind, die uns unsre Freiheit rauben wollen. Die Agitation ging sogar soweit, dass die Sowjets auf Plakaten sowohl der CSU/CDU als auch der NPD als Untermenschen dargestellt wurden.

Willy Brandt warb für die Verständigung mit ehemaligen Kriegsgegnern. Er hat der westdeutschen Gesellschaft überhaupt erst den Blick dafür geöffnet, was im deutschen Namen anderen Völkern im Osten wie im Westen angetan worden ist.

Willy Brandt warb für den Abbau der Blockkonfrontation in Europa. Er wäre heute zutiefst alarmiert vom neuerlichen Versuch, Europa zu trennen, wie es sich in der Debatte um die Europapolitik der Ukraine abzeichnet. Hier Europa, dort die Russen - eine wahrlich unerträgliche und Brandt-feindliche neue Spaltung Europas.

Albrecht Müller: »Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger«, Westend Verlag, 160 S., 12,99 Euro.