Armut rückt in die Mitte

Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands warnt vor US-amerikanischen Verhältnissen

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 3 Min.
Jeder Siebte gilt in Deutschland als arm oder armutsgefährdet, heißt es in einem neuen Armutsbericht. Das ist ein neuer Negativrekord.

Vor einer Amerikanisierung des Arbeitsmarktes warnte der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung seines dritten Berichtes zur regionalen Armutsentwicklung. Neben dem Fokus auf Regionen hat der Verband darin auch generelle Trends zur Armutsentwicklung in Deutschland ausgewertet. Spätestens seit 2006 wächst demnach die Armut stetig. Während vor sieben Jahren noch 14 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet waren, lag die Quote im Jahr 2012 bei 15,2 Prozent. Damit hat jeder siebte Einwohner Deutschlands höchstens 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Bei einem Singlehaushalt bedeutet das ein Nettoeinkommen von 869 Euro, bei einer Vierpersonenfamilie 1826 Euro.

Den Trend hält Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, auch deshalb für besorgniserregend, weil parallel die Arbeitslosenquoten und die Zahl der Hartz-IV-Bezieher gesunken sind - wenn auch nur leicht. Das deute auf eine Amerikanisierung der Beschäftigungsverhältnisse hin, nämlich, dass immer mehr Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt seien und sozialversicherungspflichtige Vollzeitjobs abnähmen, so Schneider in Berlin. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse dagegen gebe es immer mehr. Aus den Zahlen lässt sich Schneider zufolge nicht eindeutig ablesen, ob auch die Zahl armutsgefährdeter Haushalte trotz Voll- oder Teilzeitbeschäftigung zunehme. Aber: »Armut rückt immer mehr in die Mitte der Gesellschaft«, so Schneider.

Noch drastischer stellte der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, Joachim Speicher, die Situation dar: »Deutschland ist zerrissen zwischen Arm und Reich.« Wer einmal in der Armutsfalle sitze, komme kaum mehr heraus. Arme hätten niedrigere Bildungschancen und größere Gesundheitsprobleme. Dass einige Behörden nun mitteilen, dass sie auch dieses Jahr wieder den »Weihnachtsfrieden« einhalten wollen, also zwischen dem 23. Dezember und Neujahr keine Verwaltungsakte erlassen, die die Empfänger belasten, beispielsweise keine Steuerschulden eintreiben, wirkt bei den Ergebnissen nur wie eine müdes Zugeständnis.

Am höchsten ist die Armutsquote im dritten Jahr in Folge in Bremen. Dort sind mindestens 23 Prozent und damit fast ein Viertel der Bevölkerung armutsgefährdet. Problemregion Nummer eins ist das Ruhrgebiet. Die Armutsrate ist dort in den vergangenen sechs Jahren um rund ein Fünftel auf 19,2 Prozent gestiegen. In Dortmund und Duisburg nahm die Armut in diesem Zeitraum sogar um mehr als 40 Prozent zu.

Schneider begrüßte die Vorhaben der Großen Koalition zur Einführung eines Mindestlohnes und zur Reduzierung von Leiharbeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dies seien »nicht zu unterschätzende armutspolitische Instrumente«. Doch seien weit mehr soziale Programme notwendig, darunter eine Ausweitung der Ganztagsbetreuung in Schulen und eine Verbesserung des Bildungsförderungsprogrammes BAFöG. »Der Koalitionsvertrag kann nicht das letzte Wort der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung gewesen sein«, so Schneider. Speicher ergänzte, Studien hätten gezeigt, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde nicht ausreiche, um nach 42 Berufsjahren eine Rente über Hartz-IV-Niveau zu erzielen.

Schneider erklärte darüber hinaus, dass der Bericht seines Verbandes die Aussagen des 4. Armutsberichtes der Bundesregierung vom März widerlege. Darin hieß es, die Armutsquote in Deutschland sei seit 2007 relativ konstant geblieben und die Einkommensschere schließe sich langsam. Die gegensätzlichen Ergebnisse aber überraschen nicht: Schließlich waren im Armutsbericht der Bundesregierung prägnante Passagen auf Wunsch der FDP gestrichen worden. So tauchte die Aussage »Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt«, in der Endfassung nicht mehr auf, was die Situation in Deutschland positiver darstellte als die ursprüngliche Version der Studie erwarten ließ.

Kommentar Seite 11

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal