nd-aktuell.de / 21.12.2013 / Kultur / Seite 28

Das asoziale Netz

Sabrina glaubte, das Mobbing gehe vorbei. Dann kamen die Nacktbilder.

Fabian Köhler

Alle Hoffnung, die Sabrinas virtuelles Leben ihrem realen übrig gelassen hat, passt an diesem Nachmittag in zwei Schachteln Paracetamol. »Siebzehn Personen gefällt das« ,steht da schon unter dem kleinen Vorschaubild mit den großen Brüsten auf Facebook. Nach »Selbstmord Schmerzmittel« suchte Google unterdessen. Sabrina weiß nicht mehr, was sie damals davon abhielt, die drei Dutzend Tabletten herunterzuschlucken. Wie jemand an die Nacktbilder auf ihrem Computer gelangen und für alle Welt sichtbar machen konnte, auch nicht.

Sabrina wirkt nicht wie das hilflose Mädchen, das Hänseleien schutzlos ausgesetzt ist. Eher hat sie etwas von Schulhofaufpasser, Klassensprecher. Kräftige Stimme. Lautes Lachen. Endlossätze. Nur das tiefe Ausatmen und die langen Pausen, wenn sie von damals erzählt, zeigen wie gegenwärtig der Schmerz auch heute noch ist. Drei Jahre ist es her, als sich die damals 16-Jährige das Leben nehmen wollte. 12 Jahre jung war sie, als das Mobbing begann.

Sabrina kommt aus einem Dorf irgendwo in Baden Württemberg. Wo genau, soll niemand wissen. Ihren richtigen Namen auch nicht. In der siebten Klasse schicken sie ihre Eltern auf eine neue Schule. Statt halbstündiger Busfahrt kann ihr Vater sie jetzt mit dem Auto mitnehmen. »Eigentlich hab ich mich auf die neue Schule gefreut«, sagt sie. »Bis meine Brüste immer größer wurden.« Die ersten Fragen kommen: Ob man mal anfassen dürfe. Ob es bei YouPorn Filme von ihr gebe. Einige Jungs grapschen. »So sind Kerle eben, das geht wieder vorbei«, beruhigt sie ihre Mutter damals. Sie glaubt ihr selbst dann noch, als auf Schüler-VZ Mitschüler sie nur noch »Milka« nennen. Ausatmen. »Wegen den Eutern.« Ob das Mobbing war? »Es war einfach scheiße.«

Die halbe Klasse tritt der Mobbing-Gruppe auf Schüler-VZ bei

Darüber, was Cybermobbing eigentlich ist, sind sich auch Experten nicht einig. Eine jenseits von Facebook, WhatsApp und Youtube unbekannte Dimension von Anfeindungen, die durch die Anonymität im Netz jede Grenzen verlieren? Oder klassisches Mobbing, nur mit anderen Mitteln? Sicher ist: Schon jeder dritte Jugendliche hat Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht. 5656 Schüler haben die Forscher der Universitäten Münster und Hohenheim befragt und versucht die Dynamik zu verstehen, die ganze Jahrgangsstufen gegen eine Person aufbringt. »Die Verbreitung von Cybermobbing an Schulen ist bislang eher unterschätzt worden«, sagt der Leiter der Studie, Prof. Dr. Thorsten Quandt. 14,5 Prozent der Schüler gaben zu, beleidigende Nachrichten zu schreiben. Circa acht Prozent geben vertrauliche Informationen weiter. Zwei Prozent - also etwa einer in zwei Klassen - gestanden, peinliche Bilder oder Videos von anderen hochzuladen. Eine der Besonderheiten am Cybermobbing: In höheren Klassen nehmen die Anfeindungen zu. Die nüchterne Erklärung der Forscher: »Die Älteren haben eine höhere Medienkompetenz«.

Was Cybermobbing für die Opfer so gefährlich macht, erklärt Sabrina so: »Auf dem Schulhof kannst du den Typen wenigstens in die Eier treten. Auf Facebook bist du machtlos.« Das Getuschel eine Reihe hinter ihr. Die Bücher, die aus ihrer Tasche verschwinden. Dass Mitschüler »Muh« riefen, wenn sie den Klassenraum betrat. Sabrina hat sich irgendwann daran gewöhnt. »Wirklich«, schiebt sie hinterher, als müsse der 19-jährige Azubi auch heute noch beweisen, wie stark die 12-jährige Schülerin war. Schlimmer wird es, als die Anfeindungen mit Schulschluss nicht mehr enden. In der achten Klasse gründet ein Junge aus der Parallelklasse auf SchülerVZ die Gruppe »Öko-Milchhof Sabrina«. Die halbe Klasse tritt bei: »Brauchst du Hilfe beim Abspritzen? Zieh Sabrina an den Zitzen!«. Ein Bilder-Wettbewerb, wer die dickste Kuh postet. Ein Junge, den sie kaum kennt, kommentiert unter ein Bild von ihr: »Da hilft nur Notschlachtung.«

Sabrinas Eltern wussten, dass ihre Tochter in der Schule Außenseiter war. »Wie scheiße es mir wirklich ging, kriegten sie erst mit, als meine Versetzung gefährdet war«, erinnert sich Sabrina. Statt zur Schule zu gehen, ergreift sie irgendwann die Flucht. Die Vormittage verbringt sie in Einkaufszentren oder googlet in Internetcafés nach Brustverkleinerungen. »Wenn ich zurück zur Schule musste, weil mein Vater mich abholen kam, lief ich ihm entgegen, damit mich niemand am Schultor sieht.« Gleichzeitig isst sie immer weniger: »Ich dachte, ich könnte mir meine Brüste weghungern«, sagt sie. Wieder versucht sie zu entspannen, die Erinnerungen weg zu atmen. »Hat aber nicht funktioniert - mit den Brüsten«, sagt sie und lacht. Als sie an einem Nachmittag auf der Heimfahrt im Auto ihres Vaters plötzlich anfängt zu weinen, lässt dieser nicht mehr locker. Am Abend erzählt Sabrina ihren Eltern zum ersten Mal alles. Jeder Facebook-Post. Jede SMS.

Von der Hoffnung bleibt nur ein Häufchen Schmerzmittel

Am Morgen darauf rufen ihre Eltern in der Schule an, melden Sabrina krank, vereinbaren Termine mit Klassenlehrer und Rektor, telefonieren die Eltern von Mitschülern ab. Als daraufhin zwei ähnliche Fälle an der Schule bekannt werden, lädt die Schule einen Sozialpädagogen zur Anti-Mobbing-Woche. Sabrinas Mutter geht mit ihr zu einer Beratungsstelle für Mobbingopfer. Allein deren bloße Anzahl zeigt, wie weit verbreitet Cybermobbing ist. Hunderte Angebote gibt es in Deutschland: Selbsthilfegruppen, sozialpädagogische Beratungsstellen, Sonderabteilungen von Polizeidienststellen, Angebote für Täter-Opfer-Ausgleich, anonyme Hotlines, Anti-Mobbing-Foren. Eines davon ist »Schüler gegen Mobbing«. Alexander Hemker hat das Angebot vor sieben Jahren als 14-Jähriger gegründet, nachdem er selbst zum Opfer geworden war: »Es gab zwar bereits Selbsthilfe-Websites, jedoch nicht von Schülern für Schüler.« 2000 E-Mails erhielt er seitdem von betroffenen Schülern und besorgten Eltern. Bis zu 4000 Schüler tauschen im Forum der Website ihre Erfahrungen aus. Oft mit Erfolg.

Auch für Sabrina wird die Situation besser: »Nach der Projektwoche haben sich sogar einige bei mir entschuldigt«. Die Anfeindungen im Netz werden weniger. Einige Mitschüler melden beleidigende Kommentare an den Vertrauenslehrer. »Beliebt hat mich das auch nicht gemacht. Aber wenn dein letzter Tag ohne Beleidigung in der sechsten Klasse war, ist das auch egal«, sagt Sabrina.

Ein halbes Jahr geht das so - bis die Hoffnung auf ein Leben ohne Mobbing zu einem Häufchen Schmerzmittel zusammenschrumpft. »Einige fingen an, Bine zu mir zu sagen - mein richtiger Spitzname. Du weißt gar nicht, wie sich das anfühlt, wenn du vier Jahre Milka, die Kuh warst.« Das kontrollierte Ausatmen nützt nun auch nichts mehr. Sabrinas Stimme zittert. »Ich hab wirklich geglaubt, das wird.« Nur einen Facebook-Link später war ihr Glauben zerstört.

Innerhalb weniger Tage kennt die ganze Schule die Nacktbilder

Wie ein gewöhnliches Porno-Portal wirkt die Seite auf den ersten Blick: Zwei Teenies am FKK-Strand. Ein junges Mädchen masturbiert. Das private Sexvideo eines Liebespärchens. Irgendwo dazwischen sitzt Sabrina nackt auf dem Bett ihres Kinderzimmers. Darunter, sichtbar für jedermann auf der Welt: Ein Screenshot ihres Facebook-Profils, Handynummer, Adresse - die richtige, die für E-Mails sowieso. Bis heute weiß Sabrina nicht, wie jemand an die Bilder gekommen ist. Von »Revenge Porn« hatte sie damals genauso wenig gehört, wie die Tausenden anderen überwiegend Mädchen und jungen Frauen, die Opfer der vielleicht perfidesten Spielart von Cybermobbing werden: Webseiten, auf die anonym und ohne Einwilligung der Betroffenen private Nacktbilder und Videos hochgeladen werden können und sollen.

Innerhalb weniger Stunden haben Dutzende »Freunde« den Link auf Facebook weiterverbreitet. Ein paar Tage später kennt die ganze Schule die Bilder. Wieder Gespräche, Projekttage. Jeder Schüler, der die Bilder weiterverbreitet hat, muss zum Rektor. Helfen konnte das Sabrina nicht mehr: »Als die Polizei meinen Eltern gesagt hat, dass sie leider auch nichts tun können, haben sie mich von der Schule genommen.« Sabrina wechselt auf eine Schule 50 Kilometer entfernt, löscht ihren Facebook-Account, macht ihren Realschulabschluss.

Anfang dieses Jahres erhält sie wieder eine Nachricht - per Post, nicht per Facebook. »Liebe Bine«, schreiben zwei ehemalige Mitschüler in dem Entschuldigungsbrief. Sie würden sich gerne einmal mit ihr treffen. Sabrina antwortete nicht: »Ich will das einfach nur vergessen. Außerdem musste ich an dem Tag zum Psychologen«, lacht sie. Und die Nacktbilder? Die Website verschwand irgendwann. »Das Internet vergisst vielleicht doch«, sagt Sabrina. Verletzte Seelen vergessen nicht.