nd-aktuell.de / 21.12.2013 / Kultur / Seite 23

Kann ein Mensch sich selbst hassen?

Der Traum von der grandiosen Vollendung

Wolfgang Schmidbauer
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.

Die Frage scheint einfach zu beantworten: Freilich, er kann. In allen zivilisierten Ländern gibt es bis zu zehnmal mehr Selbstmörder als Mörder. In jedem deutschen Gymnasium finden sich ein paar Dutzend Mädchen und seit Neuerem auch Jungen, die sich mit Schlankheitsexzessen quälen, mit Rasierklingen Schnittmuster in die Arme ritzen oder glühende Münzen auf den Handrücken legen. Dann gibt es noch religiöse Rituale, die darauf hinauslaufen, dem eigenen Selbst zu schaden, es zu quälen, sich heimlich oder öffentlich zu geißeln und anderweitig zu martern.

Wer versucht, unter die dramatische Oberfläche solcher Aktionen zu blicken, entdeckt bald, dass die meisten Äußerungen von Selbsthass mit einer verborgenen Selbstliebe, gar einem Streben nach Selbsterlösung verknüpft sind. Es geht darum, durch die selbstquälerische Geste das eigene Ich zu erhöhen, es über andere zu erheben, die nicht so bußfertig und opferbereit sind. Diese Geste können wir, aufmerksam geworden, nun auch in der auf den ersten Blick nur destruktiv wirkenden Selbstskelettierung einer schweren Anorexie aufspüren.

In dem radikalen Blick der Betroffenen sind sie nur dann schön, wenn sie kein Gramm Fett mehr unter der Haut tragen. Auch die scheinbar eindeutigste Steigerung des Hasses, die Selbstzerstörung im Suizid, enthüllt in der Analyse die Illusion, nun endlich geliebt zu werden, Frieden zu haben, als Märtyrer geachtet zu werden und einen Platz im Paradies zu finden.

Selbsthass entpuppt sich als Kulisse. Es wird nicht das ganze Ich gehasst, sondern nur ein Hindernis, eine Last. Sie stehen dem Ideal im Weg, das erreicht werden soll und in dem ein gequältes Bewusstsein Ruhe sucht. Der fastende Asket im kratzenden Bußhemd, der Yogi auf seinem Nagelbrett, die Anorektikerin oder auch die Depressive, die sich mit Selbstvorwürfen geißelt - sie hassen nicht ihr ganzes Selbst, sondern die Fesseln einer Realität, die wie Blei an ihnen hängen und sie hindern, Frieden zu finden in einem Traum grandioser Vollendung.

Der Therapeut findet Selbsthass meist verknüpft mit einem primitiv gebliebenen Narzissmus. Es gelingt den Betroffenen nicht, sich von der Fantasie zu befreien, Vollkommenheit sei Menschenpflicht und Menschenrecht. Sie können keinen mittleren Weg zwischen Schwarz und Weiß finden, zwischen dem Liebes- und dem Hassobjekt, zwischen Erfolg und Absturz, zwischen Welteroberung und Untergang.

Nicht weil sie zu dumm oder zu bequem dazu sind, weit gefehlt, sondern weil ihr Ich in seinen frühen Entwicklungszuständen verletzt und überlastet wurde. Zuflucht bot damals die Fantasie einer vollkommenen Erfüllung der narzisstischen Bedürfnisse.

Wer so geschädigt ist, kann auf die Kränkung und Zurückweisung der ersten Liebe, der ersten Träume von Anerkennung und Erfolg nicht realistisch reagieren. Er hasst sich selbst, weil er verzweifelt ist, voller Angst, nie Ruhe zu finden. Einen Selbstmord zu planen, sich in den Arm zu schneiden oder mit Drogen zuzudröhnen entlastet von diesen Ängsten und wirkt auf den Außenstehenden, als habe da jemand begonnen, sich selbst zu hassen, der im Grunde nach einer Liebe sucht, die hienieden schwerlich zu finden ist.

Wolfgang Schmidbauer hat den Zusammenhang von Narzissmus und Selbsthass in einer Monografie über Heinrich von Kleist ausführlich untersucht: Kleist - Die Entdeckung der narzisstischen Wunde. Psychosozial-Verlag, 243 S., brosch., 24,90 €.