»Liebe Bürgerinnen und Bürger im Land …

Kathrin Gerlof über die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten und seinen diplomatischen Mut

  • Kathrin Gerlof
  • Lesedauer: 3 Min.

… liebe Landsleute in der Ferne.« Das ist keine Weihnachtsansprache. Die gibt es am Mittwoch, unser Präsident arbeitet dran. Im vergangenen Jahr sagte er in besagter und für ihn ersten Ansprache den bemerkenswerten Satz: »Kürzlich hat mir eine afrikanische Mutter in einem Flüchtlingswohnheim ihr Baby in den Arm gelegt.« Er hat nicht »vom schwarzen Kontinent« gesprochen, immerhin. Und man kann sich nicht alle Länder merken, wenn man viel zu tun hat. Die Mutter war schwarz und kam aus Afrika. Punkt.

Gauck hat uns in seiner Weihnachtspredigt - Pardon, Rede - versprochen, dass wir Verfolgten mit offenem Herzen Asyl gewähren und Zuwanderern wohlwollend begegnen wollen. Und wir haben uns diese Worte im Jahr 2013 zu Herzen genommen. Das ist auch einfach, wenn Länder, wie die Türkei oder Italien uns die Drecksarbeit und Flüchtlinge abnehmen. Jetzt gibt es sogar ein Abkommen - welch ein Meilenstein in der Geschichte deutscher und europäischer Asylpolitik -, dass Ankara uns alle Flüchtlinge abnimmt, die illegal über die Türkei in die EU einwandern. Hoffentlich bleiben noch ein paar übrig, sonst gibt es bald keine afrikanische Mutter mehr, die unserem Präsidenten ihr Kind in den Arm legen kann. Und von irgendwelchen Erlebnissen muss so ein Mann ja zehren bzw. reden können, wenn er nicht immer nur sichtlich bewegt sein will.

Joachim Gauck ist nämlich einer, der laut Medien ziemlich oft »sichtlich bewegt« ist. Die Kolumnistin wird die Weihnachtsansprache also auf jeden Fall hören.

Jetzt hat er uns fürchterlich mit seiner Ankündigung bewegt, nicht zu den Olympischen Spielen nach Sotschi fahren zu wollen. 65 Prozent der Menschen hierzulande finden das richtig. Und nun erst purzeln die Absagen so richtig. Die Kanzlerin, Frankreichs Staatschef, die EU-Kommissarin, der US-amerikanische Präsident, weitere werden folgen und die Russen werden sich von all dem nie, nie wieder erholen. Gaucks Mut hat sie alle wachgerüttelt. Denn es ist mutig, irgendwo nicht hinzufahren. Tatsächlich! Nicht gleich lebensbedrohlich, aber schon sehr gewagt. Und vor allem ist es schlau. 1968 haben die beiden afroamerikanischen Olympiasieger John Carlos und Tommie Smith bei der Siegerehrung die Black-Panther-Faust gegen Rassendiskriminierung erhoben und sind dafür suspendiert worden. Das kann unserem Bundespräsidenten nicht passieren. Er fährt gar nicht erst hin, sondern protestiert zu Hause, im Schloss Bellevue.

Den Homosexuellen in Russland wird es eine große Genugtuung sein. Vielleicht laden sie unseren mutigen Bundespräsidenten später mal persönlich ein. Dann kann er ihnen erzählen, warum ihm vor einem Jahr die Homosexuellenfeindlichkeit des einstigen Papstes Benedict XVI., die der Wladimir Putins in nichts nachsteht, keine Absage Wert war. »Gauck wirkte tief bewegt«, hieß es da. Von dem Besuch, vom Papst, vom Petersdom, von allem. Es gab ein »herzliches Einverständnis« mit dem »hellwachen Heiligen Vater« - eine Redewendung, die seltsamerweise an die von der »afrikanischen Mutter« erinnert und zudem vermuten lässt, dass Heilige Väter auch mal verpennt wirken können.

Wo solcher Mut gedeiht, muss uns also nicht bange sein fürs kommende Jahr. Wir haben eine gute Koalition bekommen, zu der die teure Tote SPD gehört. Justin Bieber beendet wahrscheinlich seine Karriere. Ein waschechter Marktliberaler, mittelmäßiger Ökonom und Bankenlobbyist wird als Staatssekretär gemeinsam mit der SPD-Ministerin Andrea Nahles eine moderne Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik durchsetzen. In diesem Jahr ist es einer Frau erstmals gelungen, sich ein Bein aus Lego zu bauen. Wir haben die Schadenersatzklage von Hinterbliebenen des Bombenangriffs von Kundus vom Tisch gefegt. Einer Autofahrerin gelang es zu entkommen, während ihr Auto von einem Erdloch verschluckt wurde. Und unsere neue Regierung wird gemeinsam mit Alice Schwarzer härter gegen Prostitution vorgehen. Alle, die zu Weihnachten einen Gutschein für den Besuch eines Bordells geschenkt bekommen, sollten den einlösen, bevor aus Sexarbeiterinnen Ein-Euro-Jobberinnen und aus Hurenprojekten Seidenmalereikurse werden.

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