Kein Neujahrsfest in Wolgograd

Ermittler vermuten Terroristen im Nordkaukasus und unter Russen, die zum Islam übergingen

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Von zwei Terroranschlägen in nur 20 Stunden wurde nicht nur das südrussische Wolgograd erschüttert. Die Stadt, die lange Stalingrad hieß, liegt nur 700 Kilometer von Sotschi entfernt, dem Gastgeber der Olympischen Winterspiele am Schwarzen Meer. Besorgte Blicke richten sich wieder einmal auf die Unruheregion Kaukasus. Die Opferzahlen der Anschläge von Wolgograd drohten am Montag weiter zu steigen. Während Menschen um ihr Leben kämpften, lief die fieberhafte Suche nach Tätern und Motiven.

14 Menschen starben, weitere 28 wurden verletzt, die meisten schwer, darunter ein Baby und eine schwangere Frau. Das war die Schreckensbilanz des Anschlags auf einen Trolleybus am Montagmorgen gegen 8.30 Uhr Ortszeit im südrussischen Wolgograd. Die Opferzahlen könnten noch steigen, sagte der Sprecher des Gesundheitsministeriums dem staatlichen Nachrichtenkanal Rossija 24. Der Zustand mehrerer Verwundeter sei »kritisch« oder sogar »sehr kritisch«.

Der Trolleybus flog keine 24 Stunden nach dem Anschlag auf den Hauptbahnhof der Heldenstadt in die Luft, bei dem am Sonntag 17 Menschen getötet und 40 weitere verletzt worden waren. Bei dem Anschlag auf den Bus kamen nach bisherigen Erkenntnissen vier Kilo Sprengstoff zum Einsatz, auf dem Bahnhof über zehn. Die Empfangshalle wurde zum Trümmerfeld, in dem Hunde nach weiteren Zündsätzen suchten. Züge können erst in ein paar Tagen wieder abgefertigt werden.

Chronik

Dezember 2013: Im Bahnhof der Millionenstadt Wolgograd zünden Terroristen am 29.12. eine mit Nägeln und Schrauben gefüllte Bombe. Bei dem Selbstmordanschlag sterben mindestens 17 Menschen.

Oktober 2013: Mit einer Bombe in einem Linienbus in Wolgograd tötet eine Selbstmordattentäterin sechs Insassen und sich selbst. Mehr als 30 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Fahnder vermuten, dass Islamisten aus dem Nordkaukasus der Frau die Bombe übergeben haben.

Januar 2011: Bei einem Selbstmordanschlag auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo sterben mindestens 37 Menschen. Drahtzieher der Sprengstoffattacke ist der tschetschenische Terrorist Doku Umarow.

März 2010: Selbstmordattentäterinnen sprengen sich in zwei Zügen der Moskauer U-Bahn in die Luft und reißen mindestens 40 Menschen mit in den Tod.

November 2009: Bei einem Sprengstoffanschlag auf den Schnellzug Moskau-St. Petersburg kommen mindestens 26 Menschen ums Leben. Umarow bekennt sich zu dem Anschlag und kündigt einen »Sabotagekrieg« gegen die »blutige Besatzungspolitik« Moskaus im Kaukasus an.

September 2004: Bewaffnete überfallen eine Schule in Beslan (Nordossetien) und nehmen 1100 Kinder, Eltern und Lehrer als Geiseln. Das Terrordrama endet mit 360 Toten. Als einer der Drahtzieher gilt der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew.

August 2004: Gleichzeitig stürzen zwei russische Passagiermaschinen ab. Alle 90 Menschen an Bord kommen ums Leben. In beiden Maschinen hatten Selbstmordattentäterinnen aus Tschetschenien Bomben gezündet.

Oktober 2002: Tschetschenen überfallen das Moskauer Musical-Theater Nord-Ost und nehmen mehr als 800 Geiseln. Nach drei Tagen stürmt die Polizei das Gebäude. 129 Geiseln und alle 41 Terroristen sterben. dpa/nd

Im Auftrag Präsident Wladimir Putins leitet Inland-Geheimdienstchef Alexander Bortnikow die Ermittlungen am Tatort. Auch Vizeministerpräsidentin Olga Golodjez und Gesundheitsministerin Veronika Skworzowa trafen dort ein und koordinieren die Hilfe für Opfer und Hinterbliebene. Der Gouverneur hat eine dreitägige Trauer angeordnet und ersuchte Behörden und Unternehmen schon nach dem ersten Anschlag am Sonntag, auf die traditionellen Feiern zum Jahreswechsel zu verzichten.

Den Einwohnern der Millionenstadt ist ohnehin nicht nach Feiern zumute. Vor rund zwei Monaten war in der Region Wolgograd bereits eine Autobombe gezündet worden und eine weitere am Freitag in Pjatigorsk. Drei Menschen starben. Pjatigorsk liegt im Nordkaukasus-Vorland, ist etwa 500 Kilometer von Wolgograd und nur 270 Kilometer von Sotschi entfernt, wo im Februar die Olympischen Winterspiele stattfinden. Die Sicherheitsmaßnahmen, die dort zum 7. Januar in Kraft treten, seien ausreichend, versicherte der Chef des Nationalen Olympischen Komitees, Alexander Schukow, der Nachrichtenagentur RIA/Nowosti. Zusätzliche Vorkehrungen seien auch nach den Anschlägen in Wolgograd nicht geplant.

Bei der Ursachenforschung tappen die Ermittler noch immer weitgehend im Dunkeln. Bei dem Anschlag auf den Bahnhof war zunächst von einer Selbstmordattentäterin aus dem Nordkaukasus die Rede, dann von einem jüngeren Mann mit Vornamen Pawel und »slawischem Aussehen«. Den Sprengsatz im Bus soll ein Mann von gleicher Erscheinung gezündet haben.

Zum Islam konvertierte Russen spielten bei Terroranschlägen schon öfter eine prominente Rolle und gelten als besondere fanatisch. Der Islam lässt Vergeltung im Unterschied zum Christentum durchaus zu und sei daher attraktiv für Menschen, die durch persönliches Unglück aus der Bahn geworfen wurden. Das gelte vor allem, wenn es sich um junge, noch nicht gefestigte Persönlichkeiten oder um psychisch Labile handelt, glauben kritische Soziologen.

Rache könnte die Täter durchaus getrieben haben. Sogar ein unmittelbarer Anlass wäre gegeben: eine größere Sonderoperation von Geheimdiensten und Innenministerium vergangene Woche in der Region Stawropol im nordöstlichen Vorland des Kaukasus und in der angrenzenden, traditionell unruhigen multiethnischen Republik Dagestan. Dort haben sich islamische Extremisten nach der Befriedung Tschetscheniens häuslich eingerichtet. Bei den Kämpfen der letzten Tage gab es auf Seiten der Extremisten Tote und zahlreiche Festnahmen.

Dumpf mit Vergeltung droht die Guerilla schon seit dem offiziellen Ende des Tschetschenienkrieges vor rund zehn Jahren. Hoffnungslos zerstritten und von den Kämpfen ausgeblutet, waren die Gruppen in der letzten Zeit aber nur zu sehr begrenzten Aktivitäten in der Lage.

Jetzt aber sind die Kinder, die 1994 zur Welt kamen, als die Kampfhandlungen in Tschetschenien begannen, zwischen 18 und 19 Jahre alt. Jungen gelten im Nordkaukasus spätestens mit 16 Jahren als waffenfähig. Auch deshalb fürchten kritische Beobachter aus der Region, Moskau könnte die Anschläge von Wolgograd gleich nach Sotschi zum Anlass für einen neuen Waffengang im Kaukasus nehmen.

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