nd-aktuell.de / 03.01.2014 / Politik / Seite 3

Der vernachlässigte Staatskonzern

Vor 20 Jahren erblickte ein undurchsichtiges Verkehrskonglomerat das Licht der Welt: die Deutsche Bahn AG

Erich Preuß
Die Eisenbahn in Deutschland kann auf eine mehr als 175-jährige Geschichte zurückblicken. Doch das durchschlagendste Ereignis war wohl die Bahnreform 1994, die dem Schienenverkehr nicht gut bekam.

Die Bahnreform von 1994 sollte ein Aufbruch sein: Der Abschied von der behäbigen Bundesbahn sollte einen Aufschwung des Schienenverkehrs wie nie zuvor mit sich bringen. Das trat nicht ein - der Hauptanteil des Personen- und Güterverkehrs blieb auf den Straßen. Dennoch wird heute anlässlich des 20-jährigen Jubiläums wieder über die behäbige »Behördenbahn« gelästert und die Deutsche Reichsbahn in der DDR als durchweg marode bezeichnet. In Wirklichkeit glänzte die Bundesbahn als ein innovatives Unternehmen, die Reichsbahn mit ihren unglaublichen Leistungen insbesondere im Güterverkehr.

Beide Bahnen litten darunter, von der Politik kaum Unterstützung zu erfahren. Das sollte sich künftig ändern. Am 27. September 1989 trat erstmals die unabhängige »Regierungskommission Bundesbahn« unter Vorsitz von Ex-Preußag-Chef Günther Saßmannshausen zusammen. Noch ehe sie etwas zu Papier brachte, stand die Wiedervereinigung auf dem Programm, und so musste sich das Gremium mit dem Zusammenführen der beiden deutschen Staatsbahnen befassen.

Das Rezept war Anfang 1994 die Fusion zur Deutschen Bahn AG, die frei von staatlichem Einfluss agieren sollte. Der erste Vorstandsvorsitzende, Heinz Dürr, wie auch sein Nachfolger sahen sich mit einer anderen Realität konfrontiert: Die Bahn blieb unter der Fuchtel der Politik. Und das Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, entpuppte sich als leere Worte: Der Anteil der Bahn am gesamten Verkehr stagnierte bei sieben Prozent im Personenverkehr und bei 17 Prozent im Gütertransport.

Das neue Unternehmen wurde wie jede x-beliebige Firma umgekrempelt, organisiert von fachfremden Beratern und Entscheidern ohne jegliches Verantwortungsgefühl. Die Alt-Eisenbahner erlebten einen beispiellosen Personalabbau und erfuhren schmerzhaft, dass Kenntnisse und Erfahrung kaum noch gefragt waren - Effizienz, nicht etwa die Pünktlichkeit der Züge, wurde zum Maßstab. Seit 1990 bauten beide deutsche Bahnen und die vereinigte Deutsche Bahn 274 000 Stellen ab, 240 000 Eisenbahner sind übriggeblieben. Viele von ihnen wurden schon mehrmals innerhalb des Konzerns versetzt, jeder machte mehrere Umstrukturierungen mit. Ein Millionen-Einsparprogramm löste das andere ab.

Dass heute unter der Marke »DB« Schiffe auf dem Pazifik fahren, Güterzüge zwischen China und Deutschland verkehren, die Mitarbeiter in aller Welt zu Hause sind, dass man überhaupt zum Verkehrsunternehmen Nummer eins werden wollte, wurde in der Ära Hartmut Mehdorn (1999 bis 2009) prahlend verkündet. Doch zu Hause blieb ein Unbehagen: über den verschwundenen Interregio, die Brachen, wo zuvor Gleise und Rangierbahnhöfe standen, über verfallende Bahnhofsgebäude und den entschwundenen Rat des Eisenbahners am Ort.

Die staatliche AG wurde immer undurchsichtiger. Der Öffentlichkeit gaukelte man vor, die DB sei so etwas wie ein Privatunternehmen. Aber längst hatten die Bürger die Nase voll von den Privatisierungen jener für die Daseinsvorsorge zuständigen Zweige. Dennoch ließen die Bundesverkehrsminister Mehdorn gewähren, ermunterten ihn geradezu, eisern zu sparen, um die Bahn für einen Börsengang fit zu machen. Und der Finanzminister wollte Geld sehen.

Am 9. Oktober 2008 beendete die Bankenkrise das Abenteuer. SPD-Finanzminister Peer Steinbrück erklärte: »Wir werden das Vermögen der Bahn nicht zur Unzeit an den Kapitalmarkt bringen.« Die Gegner des Börsengangs empfanden Genugtuung. Sie hatten gewarnt, dass die Bahn in der Hand privater Aktionäre nur die Enteignung des Volkes bedeuten würde.

Im folgenden Jahr 2009 wurde der Jüngling Deutsche Bahn noch einmal durchgeschüttelt. Das 1998 begonnene und immer intensiver betriebene Ausschnüffeln der Mitarbeiter wurde bekannt. Konzernchef Mehdorn wollte davon nichts gewusst haben, die Bereichsvorstände ebenfalls nicht. Dennoch: Bis auf den Chef der Sparte Personenverkehr, Karl-Friedrich Rausch, mussten alle Vorstände und weitere Führungskräfte gehen.

Mit neuem Personal, meist vom Autokonzern Daimler, trat am 1. Mai 2009 Rüdiger Grube als Vorstandsvorsitzender an. Der promovierte Arbeitswissenschaftler war einst beim Flugzeugbauer EADS Mehdorns Büroleiter und auch dessen Trauzeuge gewesen. Grube zeigt sich bei der Bahn aber völlig anders - er ist für Kritik empfänglich, bleibt freundlich, auch wenn er die Luftschlösser seiner Vorgänger besichtigen muss. Er steht vor einer Vielzahl von Baustellen, die oft der Sparwut seines Vorgängers geschuldet waren: das Chaos bei der Berliner S-Bahn infolge vernachlässigter Fahrzeuginstandhaltung, fehlende Fahrzeuge im Fernverkehr, der Abbau der früher bewährten Versuchs- und Erprobungsstellen, Mangel an qualifiziertem Personal wie Lokomotivführern, Fahrdienstleitern, Instandhaltern ...

Und Grube sieht den Widerspruch, dass die Bahn zwar das Schienennetz samt Brücken und Tunneln unterhält, pflegt und ausbaut, die Mittel dafür jedoch unzureichend sind. Als 2013 beim Gerangel um den Koalitionsvertrag über die Sanierung der Infrastruktur geschwafelt wurde, war nur von Straßen die Rede.

Dabei besitzt Deutschland eines der dichtesten und besten Bahnnetze der Welt, auch wenn die Strecken seit 1994 um 17 Prozent schrumpften, während allein von 2000 bis 2011 das Autobahnnetz um neun Prozent wuchs. Deutschland investiert unter westeuropäischen Ländern am wenigsten in die Schieneninfrastruktur. Die schwarz-gelbe Regierung entzog ihr sogar den Anteil aus den Einnahmen der Lkw-Maut, obwohl es einmal anders versprochen worden war. Wie soll da die Verlagerung der Transporte auf die Schiene, das Kernstück der Bahnreform, gelingen?

Allen Widrigkeiten und den ständig steigenden Fahrpreisen zum Trotz stehen die Bürger zur Deutschen Bahn wie wohl zu keinem anderen Unternehmen. Mit ihr sind sie in Liebe und Hass verbunden, ob sie nun Bahn fahren oder sie nur vom Hörensagen kennen. Die DB verbindet das Land und die Menschen mit einem System getakteter Züge. Das gelingt dem aktuell viel umjubelten Fernbus nicht.

Vom Autor erschien kürzlich das Buch: »Chronik Deutsche Bahn AG. 1994 bis heute«, transpress, Stuttgart, 19,95 €.