Der Terror des Vor-Urteils

Warum Robert Harris’ Roman zur Dreyfus-Affäre auch ein Snowden-Buch ist

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Robert Harris kann mit John le Carré oder George Orwell verglichen werden. Das sind Landsleute, die der Brite (Jg. 1957) - zusammen mit Joseph Conrad - seine literarischen Helden nennt. Spannend wie ein guter le Carré, düster mitunter wie Conrad und wie Orwell hellwach, wenn vor totalitären Denk- und Lebensformen zu warnen ist, beschäftigt sich Harris in »Intrige«, seinem neunten Roman, mit der Dreyfus-Affäre - dem antisemitischen Komplott des französischen Generalstabs Ausgang des 19. Jahrhunderts gegen Hauptmann Alfred Dreyfus (1859-1935), Elsässer jüdischer Herkunft.

Der wurde bekanntlich fälschlich der Spionage fürs deutsche Kaiserreich sowie des Hochverrats an Frankreich bezichtigt und im Januar 1895 zu öffentlicher Degradierung, zum Verstoß aus der Armee und lebenslanger Haft unter Guantánamo-Bedingungen auf der Teufelsinsel vor der Nordostküste Südamerikas verurteilt. Nach turbulenten, von antisemitischen Exzessen begleiteten Verfahren, in deren Verlauf sich Emile Zola 1898 mit seinem berühmten Solidaritätsappell »J’accuse« an Frankreichs Präsident Félix Faure (nicht Fauré, wie es im Buch heißt) wandte, wurde Dreyfus 1899 begnadigt und erst 1906 rehabilitiert.

Maßgeblich für die Wiederherstellung seiner Ehre war Oberstleutnant Georges Picquart (1854-1914), kurze Zeit Chef des militärischen Geheimdienstes der französischen Armee, des sogenannten Deuxième Bureau. Angetreten, weitere Schuldbeweise gegen Dreyfus zusammenzutragen und anfangs selbst von dessen Schuld überzeugt, gewinnt Picquart bei seinen Ermittlungen Zug um Zug und gegen alle Zweifel ein gegensätzliches Bild: Den Verrat hatte ein anderer begangen, während Dreyfus von Anfang an unschuldig war.

Schlimmer noch, seine Ankläger und Richter auf der obersten Ebene der Hierarchie hatten dies gewusst und mit gefälschten Beweisen gearbeitet - es betraf ja »nur« einen Juden. Picquart als Teil der Uniformelite gerät mit seinen Ermittlungen auf Kollisionskurs zu seinen Leuten und bekommt am eigenen Leib die Kraft und Dauer eines Vor-Urteils zu spüren.

Ein Vorgesetzter: »Tatsächlich verlange ich nicht einmal, dass Sie überhaupt etwas tun. Ich verlange nur von Ihnen, dass Sie nichts tun. Sie lassen einfach die Finger vom Fall Dreyfus. Ist das so unzumutbar, Georges?… Schließlich kenne ich Ihre Ansichten über das auserwählte Volk - also wirklich, wenn das alles vorbei ist, was kümmert es Sie da noch, ob ein einzelner Jude auf der Teufelsinsel hockt?«

Als er solche Warnungen in den Wind schlägt, gerät der Whistleblower, um einen solchen handelt es sich bei Picquart, selber zwischen die Mühlsteine der Geheimdienstmaschinerie und wird zersetzt, wie es in der Sprachregelung späterer institutionalisierter Monster im Namen der Sicherheit geheißen hätte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Picquart allerdings längst seine Lektion zur selbsttäuschenden und »kabbalistischen Macht sogenannter Geheimdienstinformationen« gelernt: »Sie können sonst vernünftige Männer dazu bringen, ihren Verstand zu vergessen und wie Idioten herumzuhüpfen.«

Harris erzählt den Dreyfus-Skandal aus der Sicht jenes Picquart, einer Person, die wie alle anderen Figuren aus dem Buch gelebt hat. Einmal mehr gibt der Autor, der sich seit seinem Bestseller-Debüt »Vaterland« vor gut zwanzig Jahren mit den Verlockungen, Verführungen und Verstrickungen der Politik in Antike wie Gegenwart befasst, zu erkennen, dass die Wirklichkeit die beste Vorlage für Politthriller ist.

2011 ging es ihm in »Angst« um die aberwitzigen Bank-, Börsen- und Spekulationsgeschäfte vor und nach »Lehman Brothers«. Davor (2009) war es »Titan« als Teil zwei seiner Cicero-Trilogie, 2007 der von Polanski verfilmte Politthriller »Ghost«. In ihm setzte der promovierte Cambridge-Absolvent und einstige Reporter großer Medienhäuser seinem vormaligen Objekt der Verehrung, Tony Blair, ein Mahnmal seiner anschließenden Enttäuschung.

Nun also Dreyfus aus der Perspektive des Whistleblowers Picquart, was Gedanken an Edward Snowden und Bradley/Chelsea Manning aufkommen lässt. Harris hat in ersten Interviews zu diesem süchtig machenden Spionageroman für denkende Leser darauf aufmerksam gemacht, dass ihm kein Snowden-Buch in Dreyfus-Tarnung vorschwebte. Als die NSA-Affäre im Juni ihren Lauf zu nehmen begann, war Harris mit »Intrige« so gut wie fertig. Doch gerade Harris wird besser als manch anderer die Assoziationen verstehen, die sein Buch auslösen kann. Deshalb ist sein Roman, zu dem er bereits am Drehbuch für eine Verfilmung durch seinen Freund Roman Polanski sitzt, gewiss nicht direkt auf Snowden geschrieben, aber erfreulich passend zu Snowden erschienen. »Intrige« ist eines der besten unter so vielen guten Harris-Büchern.

Robert Harris: Intrige. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne Verlag. 622 S., geb., 22,99 €.

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