Lob des Kommunismus

Er war ein Forscher der Extreme - am Donnerstag wäre Heiner Müller 85 Jahre alt geworden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Dieser Dramatiker, Lyriker und Theatermann war der Fähigkeit des kühnen Flugs ausgesetzt: Er war der beständige Kosmonaut, betrachtete von weit oben, aus dunklem Weltraum, die Wanderungen der Ameise Menschheit. Da unten das Grundgesetz von Fortschritt: Wo man meinte, die Zukunft zu stürmen, bewegte sich am wenigsten. Sein Werk kennt keine Kategorien wie Gut oder Böse, Falsch oder Richtig, Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage - solche fade, falsche Trennung taugt nicht für ein Zeitgefühl »zwischen Eiszeit und Kommunismus«.

Kommunismus war ihm das Höchste. Das große Zu-sich-Finden des Menschen. Aber doch nicht im Sinne jener kollektiv organisierten Erlösung in sozial befriedeter Gemeinschaft, sondern im Sinne dessen, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung. Wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbst-Verwirklichung. Das bleibt das Gespenstische an der Freiheit, die mit zwei entgegengesetzten Optionen das Bewusstsein bestürmt: frei sein von etwas - oder sich frei entscheiden für etwas. Hingehen oder weggehen. Alles lassen oder sich einlassen. Sich lösen, geht nur allein, Lösungen suchen, geht nur gemeinsam. Doch jede Vereinigungssehnsucht wird unweigerlich auf die Erfahrung treffen, dass größte Nähe die größten Unüberwindlichkeiten hervorruft.

Müller während der Arbeit an seiner Inszenierung »Macbeth« (1982) an der Berliner Volksbühne: »Thema des Stücks ist die unendliche Auswechselbarkeit des Menschen. Sie löst die Verzweiflung des Einzelnen aus. Die Verzweiflung des Einzelnen ist die Hoffnung der Kollektive. (Der Kommunismus.) ... Der Kommunismus - die Aufhebung der Auswechselbarkeit, allerdings im Prozess der Vereinzelung.« Kommunismus als das Erstrebenswerte, aber doch nicht als das wirklich Lebbare. Dichter sind nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das die Hirn- und Herzkammern sprengt. Müller lockt heraus ins Hölderlinsche Offene - wo die Wunden offen bleiben. »Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen!«

Selbstredend schmerzte ihn der Niederriss der DDR - aber nicht aus Sympathie für den Mehltau, der über allem lag, sondern aus Weh über den gravierenden Verlust von tragikfähigem Material aus Schlünden und Schründen jenes Jahrhunderts, das ihm während des Kampfes der Systeme die wilden harten blutigen Metaphern zuwarf. Er war ein Forscher der Extreme, der sich nach dem Fall der Mauern arbeitslos sah, inmitten geschmeidiger Langweiler, die an großen runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs suchten. Müllers Dialektik war das Einverständnis mit dem unlösbaren Widerspruch, mit den Verfinsterungen auf allen Seiten, mit der Unbefriedbarkeit von Gewalt links und rechts, oben und unten, bei Revolution und Reaktion. Die Dialektik mag hinterlistige Witze: Dieser Dichter Müller, jahrelang nur unter Mühen als Autor für DDR-Bühnen akzeptiert, erhielt schließlich doch den Nationalpreis - gleichsam für gute West-Arbeit. Vor allem in München und bei Claus Peymann, Matthias Langhoff, Manfred Karge in Bochum.

Die DDR hat ihn gedrückt, so konnte er ein weit größeres Weltereignis werden als jene, die auf der vermeintlichen Hauptstraße der Geschichte treu in jenem Kreis liefen, den eine Mauer vorzeichnete. Er war am Ende seines Lebens, das 1996 endete, Intendant des Berliner Ensembles; er darf als Erfinder des Schauspielers Ulrich Mühe gelten; er hatte in Bayreuth Richard Wagner inszeniert; er war als Präsident der Akademie der Künste ein Igel gegen den Erstickungshändedruck westlicher Räumwerkzeuge; und er gab zum Schluss - vor allem Alexander Kluge - grandios unbekümmerte, geistfunkelnde Interviews. Mit tolldreisten Sätzen: »Die DDR war ein Geschenk für eine Generation von Besiegten, Kommunisten, Emigranten, Zuchthäuslern, KZlern, die hier einen schönen Lebensabend verbringen durften.« Oder: »Wenn man beispielsweise durch eine Einkaufspassage in Düsseldorf spaziert, stößt man nur noch auf massenhaften Lebensersatz. Da wird Kunst plötzlich Terror, bekommt die Aufgabe, dieses Leben auszulöschen, denn das Leben in Düsseldorf ist nicht lebenswert. Fünftausend rosa Slips bejahen nicht das Leben, das schreit vielmehr nach Tod und Vernichtung.«

Er galt als zynisch. Zynisch war er nie. Privat war er weich und ausweichend, und wo ein Brecht noch durchkommen musste, da spielte Müller das Durchkommen. Etwa durch Grenzen. Er spielte mit der Dummheit der Funktionäre, sie aber hielten es für Bestätigung - und haben ihn trotzdem zu züchtigen versucht. Seine Ehrlichkeit bestand darin, wegen einer revolutionären Hoffnung, die mehr und mehr im starren, krähenden Chor gesungen wurde, nicht das unverwechselbare Gesicht seiner Verzweiflung zu verraten. Es gibt Sätze über ihn, die gehen einem nicht mehr aus dem Herzen. Der britische Essayist John Berger: »Man hat dich oft angeklagt, die Dinge zu zerbrechen, aber niemand hat dich je selbst etwas zerbrechen sehen.«

Im tiefsächsischen Eppendorf wurde der Schriftsteller 1929 geboren, er ließ sich ein Lebenswerk lang zerren vom Konflikt - zwischen Verwesung und Verwesentlichung, zwischen dem Nichtmehr einer untergegangenen Ordnung und dem Nochnicht einer aufgehenden Welt. Aber was ist alt, was neu - klar wird jedem wahrlich Schauenden doch stets nur eines: dass alles diffus bleibt. Der deutsche Idealismus: Der Körper watet im Blut, der Kopf träumt in den Wolken. Durs Grünbein schrieb, Aufklärung sei diesem Dichter »eine ununterbrochene Katastrophe«, und »die gerechte Güterverteilung ein Streit, der auf Ausrottung hinauslief«. Und die Liebe? Doch nur darstellbar als »Kehrseite künftigen Verrats«. Was in den »Lohndrückern«, im »Bau«, in der »Schlacht«, in den »Germania«-Dramen, im »Philoktet« Ausdruck findet, ist ihm früh und unabänderlich angelegt gewesen, als ewiges Drama zwischen Aufschwung und Misere. Und mit der »Umsiedlerin«, 1961 inszeniert von B. K. Tragelehn am Karlshorster Studententheater der Hochschule für Ökonomie, erlebt er erstmalig den Aufstand der Zensoren.

Müller. Der 1982 bei den Bochumer Proben zu seinem »Auftrag« einen ratlosen Schauspieler anfährt: »Tut mir leid, ich bin hier nicht der Autor, ich bin der Regisseur.« Der die »Tristan«-Proben in Bayreuth mit dem »Bild«-Horoskop für alle Beteiligten beginnt. Der heiter-böse erklären konnte, warum Thälmann die Mütze in die Arbeiterbewegung einführte: »Der hatte ein kleineres Gehirn«. Dieser Müller baute sich ein Schiff aus deutscher Sprache, um abzustoßen von jenem Ufer ganz aus Geschichte, an dem es noch keinem wirklich gut ging. Er sang die Ränder. Weltränder. Badewannenränder. Ja, unsere Sinnsuche gleiche dem vergeblichen Kampf der Silberfische, den Rand einer Badewanne zu erklimmen. Nie genug Zeit, nie genug Kraft.

Literaturwissenschaftler Hans Mayer sagte drei Worte über ihn: »Tapfer, genau, zuverlässig«. Er erinnerte grollend an jenen Funktionär des Schriftstellerverbandes, der 1961 beim Ausschluss des Dramatikers prophezeit hatte, in genüsslicher Kenntnis der gesellschaftlichen Realität: Nun würde diesem Müller zwei Jahre lang niemand ein Stück Brot geben und kein Hund von Müller ein Stück Brot nehmen. Fast dreißig Jahre später, bei einer Preisverleihung in Wien, wird Müller eine kleine Rede auf Mayer halten und ihm Dank sagen »für einen Brief und ein Stück Brot«. Der Literaturprofessor hatte damals aufmunternd zur »Umsiedlerin« geschrieben und Müller gratuliert, dass er aus einem »Idiotenverein« ausgeschlossen worden sei - der in der DDR letztlich eine hilflos verkrümmte Karriere als Sozialverband machen und einige Funktionäre zur Selbstlüge verleiten würde, dies allein schon sei geistig schwierige und nutzvoll kritische Arbeit.

Niemals, so Stephan Hermlin, habe Müller der DDR gedient. Dichter sind keine Herrschaftsdiener. Schon »aus diesem Grunde hätte ihn der Staat als eine ungewöhnliche Kraft zur Durchsetzung seiner ursprünglichen Ziele behandeln müssen«. Aber der Staat, nicht erpicht auf souveräne Charaktere, »hatte sich entschieden, Müller als Gegner zu sehen«. Auch daran, sagte Hermlin, sei die DDR zugrunde gegangen: »Stets hat sie sich für falsche Freunde und falsche Feinde entschieden.«

Am Donnerstag wäre Heiner Müller 85 Jahre alt geworden. In »Anatomie Titus Fall of Rome« gibt es Verse, die zu den schrecklich-schönsten Texten jüngerer Weltpoesie gehören. Müllers vorgefühlte Séance mit der Zukunft.

»... DIE PANTHER SPRINGEN LAUTLOS DURCH DIE BANKEN/ ALLES WIRD UFER WARTET AUF DAS MEER/ IM SCHLAMM DER KANALISATION TROMPETEN/ DIE TOTEN ELEFANTEN HANNIBALS/ DIE SPÄHER ATTILAS GEHN ALS TOURISTEN/ DURCH DIE MUSEEN UND BEISSEN IN DEN MARMOR/ MESSEN DIE KIRCHEN AUS FÜR PFERDESTÄLLE/ UND SCHWEIFEN GIERIG DURCH DEN SUPERMARKT/ DEN RAUB DER KOLONIEN DEN ÜBERS JAHR/ DIE HUFE IHRER PFERDE KÜSSEN WERDEN/ HEIMHOLEND IN DAS NICHTS DIE ERSTE WELT.«

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