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Der seidene Faden

Alexander Kluge, Gerhard Richter: »Nachricht von ruhigen Momenten«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Alles Abenteuer - beginnt im Stillstand. Der Startblock des Schicksals ist - die absolute Ruhe. Der Möglichkeitssinn hat sein Zentrum - in der totalen Bewegungslosigkeit, und der ruhige Moment, er bleibt das - Paradies der Optionen. Ja, es ist das Wunder der Welt, jener kaum wahrnehmbare Augenblick gleichsam zwischen Ein- und Ausatmen, da die Umstände und die Verhältnisse, die Kräfte und die Energien ein unwirkliches Schweben annehmen. Und sich also alles, was sprengkräftig aufeinander zutreibt, wimpernschlaglang aufhebt. Einer jeden Tat geht ein ruhiger, atemloser Moment voraus, in dem alles noch richtig, gut, friedlich, hoffnungsvoll, ungefährlich ist und das Verhängnisvolle beinahe noch zu verhindern wäre. Bevor dann alles sich entlädt, der Crash klirrt, der Kampf aufheult, die Stärke zuschlägt, die Hierarchie walzt, der Krieg tobt.

»Nachricht von ruhigen Momenten« heißt das Buch von Alexander Kluge und Gerhard Richter, nach »Dezember« das zweite Werk, für das der Maler zu den Geschichten des Schriftstellers Fotos beigab. Das Erzählwerk Kluges ist längst zu einem Strom aus unzähligen Quellen geworden, das sich seinen ureigenen Weg durch Welt und Geschichte sucht. Von den Rändern aller Zeiten und Räume reißt diese Prosa kleine Reste Leben mit, verwickelt sie in Strudel, lässt sie auf dunkle Gründe sickern, und wo sie auftauchen, scheinen die Partikel plötzlich wie eine Botschaft vom fremdesten Planeten, den wir kennen: der Erde. Auch die Geschichten dieses Buches sind alles: fiktiver Dialog, Report, Anekdote; ihren Zusammenhang holen sich die Stories aus der großen Gabe Kluges, individuelles, also geringes und verzweifelt befristetes Leben in größte, geradezu kosmische Dimensionen zu stellen. Für ihn ist es keine Schwierigkeit, zwischen den Jahrhunderten zu springen oder als Feldforscher in Revolutionen herumzugeistern; Physik und Romantik sind ihm keine Gegensatzbegriffe.

John Cage nimmt das Feuerfauchen beim Brand der Frankfurter Oper auf, eine Kompositionsanregung; aber ein Zimmermädchen seines Hotels hält das Bündel mit den Tonbändern für Müll und entsorgt es. Eine Frau auf der Intensivstation denkt, sie überlebe die Nacht nicht; plötzlich wird sie des Morgenrots gewahr, eine Durchblutung mit Hoffnung - da stirbt sie. Zwei Tauben versuchen vergeblich, sich ein Nest in einem Hochhaus zu bauen. Ein Fünfjähriger entkommt beim Sprung ins Wasser nur knapp dem tödlichen Schädelstoß an einem Eisenstab - und weiß es nicht. Ein Bariton leidet unter der Urteil eines Kritikers, er singe zu kalt. Als er Verdis Don Carlo gibt, an der New Yorker Met, stirbt er auf der Bühne, der Kritiker beschreibt die erschütternde Wirkung des letzten künstlerischen Auftritts; doch noch ein gutes Urteil, gebunden ans Sterben. So sind diese Geschichten, Heisenberg, Habermas, Schlingensief, Benjamin kommen in ihnen vor; Geschichten von allem, was der Fall ist, vorwiegend Zufall - im Unfall, im Vorfall, im Rückfall, im Wegfall, im Notfall. Jeder Fall ein Zweifelsfall daran, dass unser Leben an stärkeren Seilen hängen könnte, nein, der seidene Faden nur hält uns.

Und dazwischen diese schönen Fotos des Malers Gerhard Richter. Ein Schmetterling auf einer Hand. Eine Frau betrachtet grünen Mischwald. Ein hoher Mond über einer Ansiedlungsnacht. Ein schlafender Hund. Ein hässliche, wie stillgelegte Großstadtstraße unterm Sommerdruck. Abgeschlagenes Holz, als schliefe es auf dem grauen Waldboden. Alles so beiläufig, so wenig bedeutsam, überhaupt nicht kunstvoll. Erleben und Leere, Bewusstsein und Ahnung, Hell und Dunkel schließen sich für ruhige Momente zu durchsichtig-geheimnisvollen Szenen zusammen. Die nur eines wollen: der Verwunderung gerecht werden, die alles verdient. »Stillgestanden!« sagt das Leben ganz leise zu sich selber, es ist die Aufhebung aller Befehle. Ein Stillstand wie das schlafende Auge in der Rinde des Stamms oder in der Mitte des Taifuns.

Kluge und Richter, beide Jahrgang 1932. Beide Kinder des Februar. Ihnen ist die Schöpfung ein Marktplatz der Metaphysik, die sie als Meister der Kopplungen und Verzahnungen mit der ganzen Leidenschaft zweier Staunender durchstreifen. Wenn es ein gemeinsames Thema aller Geschichten und Fotos gibt, dann ist es ein radikal sucherisches Interesse am Nichtgeschehenen.

Das mag für Fotos paradox klingen, aber auch Richter spielt mit der abbildbaren Welt, als sei sie noch immer ein Rohstoff. Und Kluge möchte eine literarische Form finden für den Assoziationsfilm, der seit Jahrtausenden unablässig in menschlichen Köpfen abläuft. Und der keine Rücksicht darauf nimmt, was als wahr oder nur als wirklich gilt. Deshalb ist es so schwer, Kluges Literatur zu beschreiben. In dieser geradezu nervös ausgebreiteten Anekdotik zerspringt Geschichte in unzählige Trümmer, die vom Autor aufgefangen und in neue Bewegungsrichtungen gebracht werden. Das ist Umwandeln von Finden und Erfinden ins jeweils andere - Kluge vollführt das in frappierender Nüchternheit, als trete er als Gestalter völlig zurück; er beschreibt, breitet kühl aus, nährt den Realitätsübersprung durch die Fabulierkraft, die sich nichts sagen lässt. Die raffinierteste ästhetische Täuschung. Dass etwas eintreten könnte, macht es kostbarer, als es tatsächlich gewesen sein wird.

Es ist ein Buch für die Tageszeit, in der man unbedingt abschweifen möchte, aber noch nicht genau weiß, wie lange diese Zeit sein wird. Man kann in diesem Buch zappen, und ausnahmsweise verliert der Begriff seinen Makel. Je weniger zielgierig man liest, je unwillkürlicher, desto eher stellt sich Erfahrung ein. Die schönste Frucht der Kunst.

Alexander Kluge, Gerhard Richter: Nachricht von ruhigen Momenten. 89 Geschichten, 64 Bilder. Bibliothek Suhrkamp. 138 S., geb., 19,95 Euro.

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