nd-aktuell.de / 18.01.2014 / Wissen / Seite 26

Neues Sinnesorgan entdeckt

Anatomische Besonderheit bei Insekten stellt gängige Theorie der Evolution infrage

Martin Koch

Die Insekten, auch Kerbtiere genannt, bilden weltweit die mit Abstand artenreichste Tiergruppe. Wissenschaftler haben bisher rund eine Million Insektenarten beschrieben, die damit mehr als 60 Prozent aller bekannten Tierarten ausmachen. Diese Zahl könnte künftig aber noch deutlich in die Höhe schnellen. Denn nach verschiedenen Schätzungen leben auf der Erde insgesamt zwischen 5 und 30 Millionen Insektenarten, die meisten davon unentdeckt in tropischen Regenwäldern. Dagegen nimmt sich die Zahl der Säugetierarten regelrecht bescheiden aus. Sie liegt nach einer vor wenigen Jahren durchgeführten Untersuchung bei etwa 5500.

Wie sich anhand fossiler Funde rekonstruieren lässt, tauchten die ersten Insekten im Erdzeitalter des Devons auf, also vor etwa 400 Millionen Jahren. Allerdings besaßen die Tiere damals noch keine Flügel. Diese entstanden erst rund 100 Millionen Jahre später und legten gewissermaßen den Grundstein für den unvergleichlichen evolutionären Erfolg der Insekten. Doch trotz der enormen Vielfalt an körperlichen Formen und Strukturen hat sich der Grundbauplan der geflügelten Insekten über die Jahrmillionen erstaunlich wenig verändert: Auf einen Kopf mit Mundwerkzeugen und Antennen folgt ein Bruststück mit drei Beinpaaren und zwei Paar Flügeln sowie ein mehr oder weniger zylindrischer Hinterleib. Die Laufbeine am Hinterleib fielen vermutlich dem Erwerb der Flügel zum Opfer. Sie sind daher vollständig reduziert und stehen am Hinterende nur noch im Dienst der Fortpflanzung.

Aber in der Natur ist bekanntlich nichts für die Ewigkeit gemacht, wie ein internationales Forscherteam um Hannelore Hoch und Andreas Wessel vom Berliner Museum für Naturkunde jetzt erneut festgestellt hat. Bei der Untersuchung der »Bennini«, einer Kleinzikadengruppe aus Südostasien, stießen die Wissenschaftler auf ein bisher unbekanntes stäbchenförmiges Sinnesorgan, das sich beidseits an der Basis des Hinterleibs befindet und deshalb kurz als LASSO (engl.: lateral abdominal sensory and secretory organ) bezeichnet wird.

Durch den Einsatz von wissenschaftlichen Großgeräten, darunter zwei Elektronenspeicherringen für hochauflösende Mikro-Computertomographie, konnte die Struktur des winzigen Sinnesorgans in 3D virtuell rekonstruiert werden. Es trägt demnach an seiner Spitze ein weißes Wachshäubchen, unter dem sich die aus Haaren und Borsten bestehende sensorische Einheit verbirgt. »Die Evolution besitzt offenbar das kreative Vermögen, bei entsprechendem Selektionsdruck aus alten genetischen Bausteinen neuartige Strukturen zu formen«, sagt Wessel. Er und seine Kollegen vermuten, dass das LASSO den Bennini hilft, Räuber oder Parasiten rechtzeitig aufzuspüren. Es könnte dabei akustisch funktionieren, aber auch auf elektromagnetische Felder ansprechen.

Bisher galt die Lehrmeinung, dass bei geflügelten Insekten die Körperanhänge (Mundwerkzeuge, Beine etc.) von jeweils nur einem Segment gebildet werden, und dass der genetisch festgelegte Grundbauplan keine solchen Anhänge am Hinterleib vorsieht. Das LASSO der Bennini-Zikaden widerspricht beidem. Es befindet sich am Hinterleib und geht dort aus zwei Segmenten hervor. Die »Bauanleitung« dafür ist natürlich ebenfalls in der Millionen Jahre alten Erbinformation der Insekten enthalten. Allerdings scheint die Evolution dieses genetische Potenzial nur dann abzurufen, wenn spezielle Umweltbedingungen es erfordern.

Die jetzt im Fachblatt »Current Biology« (Bd. 24, R16) veröffentlichte Forschungsarbeit weist aber nicht nur neue theoretische Wege. Sie zeigt auch, wie wichtig der Schutz und Erhalt der irdischen Biodiversität ist. Denn die 125 bekannten Arten der Bennini leben ausschließlich in den bedrohten Regenwäldern Südostasiens, mit deren Abholzung zugleich eine einmalige Erfindung der Natur für immer verloren ginge.