Freiheit ist immer auch die Freiheit des Konsumenten

Was Sascha Lobos enttäuschte Liebe und Apps für den Einkaufswagen miteinander zu tun haben

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

In der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« hat der Internet-Avantgardist Sascha Lobo am vergangenen Wochenende erklärt, er und die Seinen fühlten sich ob des Missbrauchs des Internets durch Geheimdienste zur Überwachung sowie durch die Wirtschaft zur kommerziellen Kontrolle des Einzelnen gekränkt (»Die digitale Kränkung des Menschen«). »Das Internet ist kaputt«, fasst er seine Enttäuschung zusammen. Das ist mehr als die enttäuschte Liebe eines Computernerds zum Objekt seiner Begierde, es ist das Eingeständnis eines Selbstbetrugs. Das Lieblingsspielzeug erweist sich als ein Instrument der Unfreiheit, dessen sich der Staat wie privatwirtschaftliche Unternehmen ungeniert bedienen.

Das ist keine neue Erkenntnis, bemerkenswert ist allerdings, dass sie den Internet-Avantgardisten erst jetzt dämmert. Dabei hätten sie es wissen können. Schon seit längerer Zeit läuft im Fernsehen ein Werbespot des deutschen Webportals GMX. Man sieht darin Menschen, die über dem Boden durch Räume und Städte schweben. Damit will die digitale Kommunikationsform laut Eigendarstellung »für den vertraulichen Dialog mit eindeutig identifizierten Sendern und Empfängern zwischen Bürgern, Behörden und Unternehmen« werben. Musikalisch untermalt wird der Spot durch das Lied »Die Gedanken sind frei«, einem alten Volkslied, das im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum zum politischen Lied wurde, mit dem Demokraten Meinungsfreiheit einforderten.

Dereinst wird der Werbeclip möglicherweise als Menetekel wahrgenommen werden, der den Angriff der Maschinenwelt auf das vermeintlich letzte Refugium menschlicher Autonomie - die eigenen Gedanken, die von keinem noch so ausgeklügeltem Algorithmus entschlüsselt werden können. Doch für wie lange noch? Denn schon gibt es sie ja, die ersten technischen Verfahren, die aus dem Menschen ein Cyborgwesen machen: unter die Haut gepflanzte Mikroprozessoren, die Blinde sehend und Taube hörend machen, und die nächste Generation der digitalen Revolution ist bereits in Vorbereitung: Technologien, die es Gelähmten möglich machen, nur mittels ihrer Gedanken ihre Gliedmaßen zu bewegen.

Die Technologie selbst aber ist unschuldig wie ein Kind, das ein Gewehr in die Hand gedrückt bekommt und aus purem Interesse am Ursache-Wirkung-Prinzip und naiver Neugier den Abzug betätigt. Technologie, die Blinden, Tauben und Gelähmten hilft, kann ebenso dazu genutzt werden, Kampfroboter zu entwickeln, die das Mordhandwerk perfektioniert beherrschen. Technologie, die Gedanken in Bewegung von Gliedmaßen umsetzt, kann umgekehrt dafür verwendet werden, Gedanken zu lesen. Was zum Schaden der Menschheit wurde, kam schon immer im Kleid der Wohltat zu uns.

Ohne diese Wohltat aber kein Fortschritt - und ohne diesen keine Menschwerdung. Im Film-Universum der vielzähligen »Star-Trek«-Filme und -Serien gibt es ein von Menschen geschaffenes Wesen: Data, ein hochentwickelter, von Menschen äußerlich nicht mehr zu unterscheidender Android (ist es ein Zufall, dass das Betriebssystem für Tablet-Computer und Smartphones von ihren Entwicklern die Bezeichnung »Android« erhielt?). Dieser Android ist beständig auf der Suche nach dem, was ihn zum Menschen machen könnte, zu einem Fürsichselbst.

Was aber unterscheidet den Menschen von der Maschine? Zunächst: die Sprache selbst. Segen und Fluch zugleich; ohne verbale Kommunikation keine Menschwerdung, aber auch ein Hort von Irrtümern und Missverständnis. Der ausgesprochene Gedanke war nicht immer identisch mit dem Gemeinten, und was gemeint war nicht gleich dem Gesagten. Das Gesprochene hat allerdings einen Vorteil (zumindest bis zur Erfindung des Grammophons): es hinterlässt keine nachweisbaren Spuren, unterliegt dem Wunder des Missverständnisses, das nur das hört, was es hören mag. Noch heute ist deshalb »Stille Post« eines der beliebtesten Spiele bei Kindergeburtstagen.

Dann: die Schrift; sie schon mit mehr Fallstricken versehen. Was niedergeschrieben steht, kann schwerlich als Missverständnis umgedeutet werden. Die Schrift ist untrüglicher Beweis für den Gedanken, ohne allerdings in dessen Innerstes vorzudringen: den Geist. Was einem Irrlicht gleich durch die neuronalen Verbindungen des Gehirns gesendet wird, einem komplexen Entscheidungsprozess unterworfen, schließlich gewichtet und teilweise verworfen wird, bleibt intimes Geheimnis, ein Fürsichselbst.

Demnächst schließlich: der Gedanke; noch ist er unter unserer Kontrolle, aber für wie lange noch? Kürzlich gab ein Unternehmen bekannt, dass es noch in diesem Jahr ein System auf den Markt bringen will, das die Hirnströme von Hunden misst, diese übersetzt und per Lautsprecher aussendet, und bereits seit mehreren Jahren arbeitet der US-amerikanische Mikroprozessorenhersteller Intel an einer Software, mit deren Hilfe Gedanken gelesen werden können. Die Entwicklung dieser Software wird nicht vorangetrieben, damit künftig Gelähmte gehen oder Stumme sich verbal der Umwelt mitteilen können. Ziel ist es, eines Tages Computersysteme nicht mehr über Stimme oder Tastatur, sondern direkt über Gedanken zu steuern.

Diese Kontrolle aber wird auch in der Umkehrrichtung funktionieren: die Steuerung des Menschen durch die Maschine. Es hängt lediglich daran, wie viel Transistoren auf einen Mikrochip passen, wie viele Prozessoren miteinander vernetzt werden können und der Komplexität der damit ausgeführten Algorithmen. An der TU Berlin wird derzeit eine Armmanschette entwickelt, die Techniker bei der Arbeit überwacht und sie akustisch und visuell warnt, wenn sie unaufmerksam zu werden drohen und ihnen deshalb Fehler unterlaufen könnten. Aus dem Fürsichselbst wird ein Fürdieanderen.

»Die Gedanken sind frei … kein Mensch kann sie wissen«, heißt es in dem Volkslied. Das mag für das 19. und noch für das 20. Jahrhundert gegolten haben, im noch jungen 21. Jahrhundert ist dies auch nur noch Selbstbetrug des Konsumenten. Als 1987 in Westdeutschland ein Teil der Bevölkerung gegen die Volkszählung auf die Barrikaden ging, war dieser Teil noch der Ansicht, Gedankenkontrolle könnte irgendwann vom Staat organisiert werden. Welch ein Irrtum! »Die Überwachung, die mit Freiheit zusammenfällt, ist wesentlich effizienter als jene Überwachung, die gegen die Freiheit gerichtet ist«, schreibt der an der Universität der Künste lehrende Philosoph Byung-Chul Han im »Spiegel« (»Das digitale Panoptikum«). Die Überwachungsgesellschaft vollende sich dort, »wo ihre Bewohner nicht durch einen äußeren Zwang, sondern aus einem inneren Bedürfnis heraus sich mitteilen, wo also die Angst davor, seine Privat- und Intimsphäre aufgeben zu müssen, dem Bedürfnis weicht, sie schamlos zur Schau zu stellen.«

Diese Freiheit ist nicht mehr nur die Freiheit des Individuums, sondern immer auch die Freiheit des Konsumenten. »Bedürfnisse werden nicht unterdrückt, sondern maximiert«, kritisiert Han im »Spiegel«. Wir sorgen dabei schon selbst für diese Maximierung. Beim Einkauf in einem Supermarkt etwa. Die Dimensionen dieser Märkte nehmen immer mehr zu. Vor den Konsum fordern die Supermarktketten von uns die Fähigkeit, sich in den Irrgärten der Warenregale zurecht zu finden und dabei nicht die Orientierung zu verlieren. Der analoge Kompass - unser Gedächtnis, der niedergeschriebene Einkaufszettel - sind längst nicht mehr ausreichend hilfreich. Gibt es eigentlich schon eine App, die uns durch die Märkte navigiert, nach dem an der Fleischtheke georderten Rindersteak uns zum dazu passenden Rotwein führt, sich merkt, welche Produkte wir beim letzten Einkauf in den Einkaufswagen gelegt haben, welche Waren wir bevorzugen, welche nicht, uns vor Lebensmitteln warnt, die gesundheitsschädlich sein könnten, die Sonderangebote in die Kaufempfehlung einfließen lässt - und uns so die Kaufentscheidung weitestgehend abnimmt? Nein, noch nicht? Noch nicht?!

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