Wellenschlagen, Krähengeschrei, Kindermurmeln

Der Altmeister Zubin Mehta dirigierte Werke von George Crumb und Anton Bruckner in der Philharmonie Berlin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Zwei extrem divergierende Werke durfte das Publikum am Wochenende im voll gefüllten Saal der Berliner Philharmonie erleben: George Crumbs »Ancient Voices of Children« und Anton Bruckners unvollendete neunte Sinfonie. Letzte, gebirgig ihre Kontur, fast wahnhaft die ihr innewohnende Mystik, scheint beinahe ein Lieblingswerk für Dirigenten zu sein. Zubin Metha hat es über Jahrzehnte immer mal dirigiert. Günter Wand feierte im Haus der Philharmoniker wahre Triumphe mit ihm, solche, wie sie schon nicht mehr feierlich sind, denn die Anwesenden - als hätte die Schlange zugebissen - schienen am Ende wie in Trance. Philharmoniker-Chef Simon Rattle entflammte mit seinen Aufführungen nicht minder den Sinnenhaushalt einer Masse tobsüchtiger Geister. Und diesmal, nicht anders zu erwarten, erbebte das Haus abermals. Wohl weil in diesem opus ultimo die Wellen schlagen wie die an Feuer und Tod gemahnenden Glocken der Kirchen in Linz mit dem Augustinerstift St. Florin inmitten, dem Hauptwirkungsort des tiefgläubigen Bruckner. Seine Neunte ist ein Fragment, der Finalsatz blieb unvollendet. Aus sich heraus expressionistisch, da müssen die Spieler nicht viel dazu geben, klingt die Eröffnung. Der spätere Expressionismus dürfte sich schon hieraus seinen Teil geholt haben. Wer Bruckners Neunte kennt, der kann die wilden Momente, ja terroristischen Energien des Scherzo-Satzes kaum abwarten, worin sich ein Aufbegehren wider den nahenden Tod auslässt, auch ein Lachen, wie es Krähengeschrei suggeriert. Bruckners Scherzo-Behandlung blieb seinerzeit unerreicht und wurde wohl erst eingeholt in Gestalt der Burleske der Neunten von Mahler. Beider Scherzo-Sätze schockieren heute noch.

Die Philharmoniker mussten hierfür keine Lanze brechen, sie können das einfach phantastisch hervorbringen, und man darf glauben, dass sie das mit voller Hingabe tun. Zumal unter Zubin Metha, dem Altmeister leidenschaftlicher Besonnenheit, dem kein Affekt guter Musik fremd scheint, der so gut wie alles, was die Podien der Welt ermöglichen, durchdirigiert hat. Der Inder Mehta hat das Eröffnungswerk, die eigentliche Überraschung des Abends, schon Jahrzehnte vorher mehrmals aufgeführt. Kein Glücksfall also, dass es nun in Berlin zu hören war. »Ancient Voices of Children« für zwei Singstimmen und acht Spieler plus Dirigent, auf Gedichte von Federico Garcia Lorca, wurde 1970 in Washington D. C. uraufgeführt. Stücke des US-amerikanischen Komponisten, geboren 1929 im Bundesstaat West Virginia, kommen hier so selten vor wie Schmetterlinge im Winter. Zwei Singstimmen hat sein Werk, eine Knabenstimme aus der Ferne (Knabe des Staats- und Domchores Berlin), eine Sopranstimme mit dem Hauptpart (Marlis Petersen). Sie kreuzen ein᠆ander erst im letzten Gedicht. Selten ist das Instrumentarium, das Crumbs »Ancient Voices« verwendet. Ein Flügel, der nur in den Pedalen und Inside-Möglichkeiten betätigt wird und in dessen Korpus zum Schluss Knabe und Sopranistin gebückt hineinvokalisieren, wodurch die merkwürdigsten Echos vom Podium in den Saal gehen. Zwei Schlagzeugern und einem Pauker sind so sparsame wie rhythmisch anspruchsvolle Aufgaben übertragen. Eine Harfe bringt sich mit geringfügigen, nichtsdestoweniger auffälligen Zupf- und Schlaganteilen ein. Eine Singende Säge beginnt ihren Gesang nicht, bevor die Knabenstimme leise ihr traurig Lied singt, wozu Töne eines Spielzeugklaviers sich gesellen, wenn es spanisch gesungen in deutscher Übersetzung heißt: »An jedem Nachmittag in Granada, / an jedem Nachmittag stirbt ein Kind.« Mandoline, wider die Erwartung behandelt, und kantable Oboe geben das Ihrige hinzu. Vokalisen hat das fünfteilige Werk, Sopraneskes in Extremlage, den Schrei, Koloraturen, Instrumentalisten sprechen, murmeln, skandieren, vokalisieren stellenweise mit, Singen und Sprechen mit Sprachrohr und eine Dichtung, die sich bildreich Lebensgefühlen und Bitternissen des Kindes widmet. Eine so seltene wie wundersame Arbeit, dieses Werk. In ihm paart sich empfindlichstes Klang- und Ausdrucksdenken mit tagklarer Formung. Dem Ensemble unter Zubin Mehta gelang eine mit viel Beifall bedachte Aufführung.

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