Falken fressen Sieger

Londons Taubenzüchter fürchten um ihr Hobby

  • Felix Lill, London
  • Lesedauer: 5 Min.
Taubenrennen sind die Leidenschaft vieler Briten. Aber das Hobby steht vor einer ungewissen Zukunft. Der Appetit der Falken, Straßentauben und der fehlende Nachwuchs machen es dem Sport schwer.

»It's heartbreaking«, stöhnt Billy McCoy. Herzzerreißend sei das. Er sitzt auf einem braunen Ledersofa in seinem Wohnzimmer, auf der anderen Seite des Raumes flimmert der Fernseher. »Die ganze Arbeit ist manchmal umsonst. An manchen Tagen kommst du in einen Konflikt mit dir selbst und fragst dich: wozu mache ich das eigentlich noch?«

Vom Hinterhof aus, hinter einer Glastür, ist Gurren und Geflatter zu hören. »Heute habe ich noch ungefähr hundert Tauben. Früher waren es viel mehr.« Das schrumpfende Aufgebot macht McCoy Sorgen. »Wenn ich in diesem Jahr wieder kein Rennen gewinne, sind es fünf Jahre ohne Sieg.« Er mache ja heute nichts anders als damals, als er noch einen Erfolg nach dem anderen einheimste.

Billy McCoy aus dem Londoner Stadtteil Hammersmith ist einer von offiziell 60 000 Taubenliebhabern in Großbritannien. »Pigeon fanciers«, wie sie sich nennen, züchten und trainieren die Vögel für Rennen, bei denen es darum geht, von einem bestimmten Punkt schnellstmöglich nach Hause zu fliegen.

Was über lange Zeit eher ein Hobby war, entwickelte sich in Großbritannien vor rund 15 Jahren zu einem Sport. Taubenrennvereine gründeten sich in allen Gegenden des Landes mit Turnieren und Preisgeldern. Bis heute ist die Königsfamilie ein Patron der Bewegung. Aber obwohl sich die pigeon fanciers durch zwei Fachzeitschriften und einen Interessenverband auch öffentlich zu vertreten wissen, fürchtet McCoy ein baldiges Ende seiner Leidenschaft. An die erfolgreichen Tage erinnert er sich mit einem warmen Lächeln. Billy McCoy steht vom Sofa auf, öffnet die Tür zum Hinterhof und geht nach draußen. »Siehst du die Lofts?«, fragt er und zeigt auf vier dunkelgrün gestrichene Holzkäfige mit Gitterfenstern und Schiebetüren. »Darin wohnen die Tauben.« Jeden Morgen trainiert der Postangestellte die kleinen Vögel, bevor er zur Arbeit geht. Erst bekommen sie elektrolythaltige Getränke, dann kohlenhydratreiche Körner, bevor es in die Lüfte geht. »Je nach Wetter und Laune fliegen sie morgens zwischen zehn Meilen und deutlich mehr.« Wenn McCoy abends von der Arbeit kommt, gibt es, sofern es nicht regnet oder die Wolken zu tief stehen, eine zweite Trainingseinheit.

Wegen ihres guten Orientierungssinns finden trainierte Tauben immer zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Durch bestimmte Stimuli erhöhen Züchter die Geschwindigkeit. »Weibchen kannst du gemeinsam mit ihren Eiern an einen anderen Ort bringen und ihnen dann das Nest wegnehmen«, erklärt McCoy. »Sie gehen dann davon aus, dass das Nest daheim sein muss und fliegen schneller zurück.« Einer männlichen Taube hingegen entziehe man kurz vor dem Rennen etwa aus demselben Grund das Weibchen, um sie schneller heimkehren zu lassen. Bei günstigem Wind und Wetter schaffen es gut trainierte Tauben auf rund 130 Stundenkilometer.

Bis vor einigen Jahren gehörte McCoy mit seinen Trainingsmethoden zu den erfolgreichsten pigeon fanciers Großbritanniens. Jedes zweite Rennen habe er damals gewonnen, sagt er stolz. Die 80 Pfund, die der 45-Jährige bis heute wöchentlich in den Unterhalt und das Training seiner Tiere steckt, spielte er damals durch Siegprämien wieder ein, machte sogar Gewinn. »Du wirst natürlich nicht reich«, wiegelt er ab. Aber bessere Nahrung und großzügigere Unterkünfte für die Tiere wurden erschwinglich. Hin und wieder konnte er erfolgreiche Tauben einkaufen, um mit diesen weitere Rennen zu gewinnen und Nachwuchs zu züchten. Siegreiche Vögel kosten auf dem Markt oft mehrere tausend Euro. Die bisher teuerste Taube erzielte im Februar 2012 gut 260 000 Euro. Aber wie für viele Liebhaber sieht es bei Billy McCoy heute nicht so aus, als stünden gute Zeiten bevor. Auch an dem Tag, von dem an es für seinen Stall bergab ging, erinnert er sich genau. »Das war an einem sommerlichen Tag 2008. In der Nachbarschaft kreiste auf einmal ein Falke über unserem Haus.« McCoy wusste sofort, dass der Raubvogel es auf seine Zucht abgesehen hatte. Eine Taube nach der anderen verschwand. »Heute gehen mir neun von zehn einfach verloren, weil sich die Falken weiter vermehren«, sagt er traurig. Zwar blieben gerade junge Vögel auch manchmal an Drähten hängen oder verlören sich auf dem Weg. Die meisten aber fallen mittlerweile Raubvögeln zum Opfer oder lassen sich von diesen verschrecken und kehren nicht wieder heim. Von McCoys siegreichen Renntauben ist keine mehr da.

»Das Problem ist«, erklärt er, »dass wir heute machtlos sind.« Im Stadtgebiet Londons gibt es keine Jagdlizenzen und ohnehin sind Falken gesetzlich geschützt, weil sie vor allem durch den Zweiten Weltkrieg bedroht waren. Damit Brieftauben ihre Dienste als Überbringer geheimer Botschaften erfüllen konnten, wurde die Population von Falken klein gehalten. Es waren stolze Zeiten für Tauben, mehreren Vögeln wurden Verdienstorden verliehen, weil ihre Übermittlungen Menschenleben retteten. Doch durch die in London allgegenwärtigen als Flugratten verschrienen Straßentauben erfreut sich die Vogelart heute kaum noch Sympathien.

»Es ist so schlimm geworden, dass wir uns vor anderen Menschen für unser Hobby verteidigen müssen.« Renn᠆tauben sind zwar auf den ersten Blick mit Straßentauben verwechselbar, haben aber größere Muskelmasse und mehr Ausdauer. Einen Schutz für Renntauben, den sich McCoy und die weiteren Enthusiasten wünschen, ist unwahrscheinlich, weil sich kaum jemand außerhalb der Szene für die Vogelart einsetzen will.

Und auch wenn ein Schutz der Vogelart gelingt, bleibt die Zukunft ungewiss. Im Züchter- und Rennverein im Westen von London steigt das Durchschnittsalter der Mitglieder. »Mein Sohn ist 21«, sagt Billy McCoy. »Ich hätte ihn gern an die Tauben herangeführt, so wie mein Vater es mit mir getan hat.« Aber er würde ihnen nicht zu nahe kommen. »Er mag sie einfach nicht.«

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