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Wie konkret muss das Grauen sein?

Muss das Mordinstrument öffentlich ausgestellt werden? Sind erst dann die ungeheuren Verbrechen der deutschen Faschisten fassbar? Enthüllt erst der Anblick der Guillotine, der Stricke oder Fleischerhaken der Henker die Brutalität und Inhumanität des Naziregimes? Wie konkret nacherlebbar muss der grauenvolle Akt der Tötung sein, um Empathie für die Ermordeten zu empfinden?

Am 22. Februar 1943 erging gegen Hans und Sophie Scholl in München vorm Volksgerichtshof unter Vorsitz des extra aus Berlin angereisten Blutrichters Roland Freisler wegen »landesverräterischer Feindbegünstigung«, »Vorbereitung zum Hochverrat« und »Wehrkraftzersetzung« das Todesurteil. Noch am Abend des gleichen Tages ins Zuchthaus München-Stadelheim überführt, wurden sie unter Aufsicht des Leiters der Vollstreckungsabteilung des Münchner Landgerichts Walter Roemer gemeinsam mit ihrem
Freunde Christoph Probst vom Scharfrichter Johann Reichhart enthauptet.

Ist es nicht viel wichtiger zu wissen, dass jener Henker, der die Guillotine seine bevorzugte Hinrichtungsmethode nannte, weil sie »die schnellste und sauberste sei«, von der bundesdeutschen Justiz
nicht belangt wurde und zwar einsam, aber friedlich mit 79 Jahren starb? Ein Alter, das den Geschwistern
Scholl und Gleichgesinnten nicht vergönnt war. Der Todesnotar Roemer überschritt sogar die 80. Er konnte in Nachkriegs- Westdeutschland noch richtig Karriere machen, erst beim bayerischen Ministerium für Justiz
und anschließend beim Bundesjustizministerium. Er ließ sich mit »Ministerialdirektor« anreden, als er 1968 in Rente ging und sich einer satten Pension erfreuen durfte. Die nur halbherzig gegen ihn geführten Ermittlungen blieben erwartungsgemäß ergebnislos. Noch im Jahr 1987 ließ die zu einer Stellungnahme genötigte Bundesregierung lapidar verlauten: »Roemer hatte keine Möglichkeit, die Vollstreckung solcher Urteile zu verhindern.« Das sollte man wissen. Und nicht, wie eine Guillotine, die das Leben mutiger Antifaschisten auslöschte, aussah oder funktionierte.

Ich kann die Beklemmung und Ängste von Hans Coppi nachempfinden, die ihn beschlichen, als er das erste Mal, nach langem Zögern und nun nicht nur als Sohn, sondern als Historiker der »Roten Kapelle«, die Hinrichtungsstätte in Berlin-Plötzensee betrat. Dort waren am 22. Dezember 1942 sein Vater gehängt und am 5. August 1943 seine Mutter durch das Fallbeil enthauptet worden. Bärbel Schindler-Saefkow erstarrte beim erstmaligen Anblick des Fallbeils, das ihr am 18. September 1944 im Zuchthaus Brandenburg den Vater nahm. Ihre Rede stockt noch heute, Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie davon erzählt. Obwohl sie sich ebenso wie Coppi seit Jahrzehnten forschend und publizistisch mit dem deutschen Widerstand, nicht nur der Eltern, befasst. Es gibt die authentischen Orte, die ehemaligen Folterhöllen, die Konzentrationslager und Gefängnisse, einfühlsam dokumentierende und mahnende Gedenkstätten. Wem dient NS-Voyeurismus
in einem Museum der Dinge.

Weiterlesen:

Die Opfer des Nazi-Fallbeils
Eine Guillotine erregt jene Aufmerksamkeit, die die Toten längst verdient hätten

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