Seine Augen füllen sich mit Tränen...

Migrantenleben

  • Martin Meier
  • Lesedauer: 3 Min.

Der alte Herr lehnt sich über unseren Gartenzaun. Er blickt mich an, schüttelt mit dem Kopf: »Nee, eins will ich Dir sagen ...« Oft spricht er in diesem teils belehrend wirkenden Ton. Man sieht man den 75-Jährigen stets im Garten wirtschaften, bei Wind und Wetter. Manchmal erzählt er von der Flucht aus Danzig und davon, dass er bereits als Elfjähriger mithelfen musste, die Familie zu ernähren. Oft endet er mit den Worten: »Nee, heute ist das alles anders. Die Jugendlichen haben nur noch Mist im Kopp. So etwas, wie wir damals, müssen die ja auch nicht erleben.« Irrtum! Ich reiche ihm ein kleines blaues Buch. Der Ingenieur im Ruhestand nimmt es still zur Hand. Am darauf folgenden Tag gibt er mir das Büchlein wieder. Er wirkt nachdenklich, sogar etwas traurig. Die Geschichten hätten ihn tief beeindruckt, sagt er.

Das Büchlein ist der erste Band einer Schriftenreihe der im Osten Hamburgs gelegenen Stadtteilschule Mümmelmannsberg. Das ambitionierte Projekt versucht die alte Tradition schuleigener Schriftenreihen wieder zu beleben, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an deutschen Gymnasien noch selbstverständlich waren.

Mehr als 80 Prozent der Mümmelmannsberger Schülerschaft besitzt Wurzeln im Ausland. Einwanderung ist hier hautnah erlebbar, keine Frage distanzierter, durch Medien gebrochener Wahrnehmung, in der Migranten zumeist Objekte, Projektionsfläche von Tugenden oder Verfehlungen und selten Subjekte sind.

Das vorliegende Buch verdankt sich der Initiative einer Lehrerin: Ulrike Hasse nahm eine Unterrichtseinheit über deutsche Exilanten in der Zeit der NS-Diktatur in Deutschland zum Anlass, die Schüler des Jahrgangs 12 über ihr eigenes Schicksal nachdenken zu lassen. Ergreifende Zeugnisse entstanden - von Flucht, Leid, Elend des Krieges, von Hunger und vom schweren Start in einem fremden Land. Auch von von Frieden und Toleranz in der neuen Heimat und den Möglichkeiten, sich hier weitgehend frei zu entfalten.

Auffallend ist die positive Identifikation der jungen Migranten mit Deutschland, trotz ungebrochener Sehnsucht nach der alten Heimat. Auch Kritik an den Zuständen in der Bundesrepublik sowie Hoffnung auf Mitgestaltung ist hier zu lesen. »Mein Wunsch ist es, dieses schlechte soziale Miteinander in der westlichen Gesellschaft zu verbessern«, heißt es im Text eines Jungen, der seinen Vorsatz künftig als Lehrer umsetzten möchte. Eine Schülerin berichtet, sie nach ihrer Ankunft in Deutschland freundlich aufgenommen worden, habe nie Ablehnung oder Vorurteile erfahren. Als sie jedoch der Tradition der Familie folgend, ihre »Reize« zu bedecken begann, spürte sie Misstrauen, »als wäre ich unnormal«. Ein Kopftuch würde pauschal mit Unterdrückung der Frau gleichgesetzt. Ein Schüler erzählt von der inneren Zerrissenheit seines Vaters: »Er spricht oft über das Vergangene. Wie es war, in Afghanistan zu leben, dass sie jeden Tag, jede Nacht, jede einzelne Sekunde in Angst leben mussten. Seine Augen füllen sich mit Tränen, wenn er erkennen muss, dass er nie in seine Heimatstadt zurückkehren kann.«

Ulrike Hasse (Hg.): Meine Geschichte. 108 S., br., 12,90 €, als e-book: 9,90 €.

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