Auf gute Nachbarschaft

Berliner teilen ihre Stadt mit 30 000 wilden Tierarten - und die »Big Five« unter ihnen werden immer mehr

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 4 Min.
Unsere wilden Mitbewohner sind manchmal fellig und niedlich, immer aber eine Attraktion. Dabei sind sie eigentlich vor allem eins: ein ganz normaler Teil des Ökosystems Stadt.

Am stillen Märkischen Ufer, kurz vor dem alten Hafen in Mitte, drängen sich Menschen. Andere Spaziergänger kommen neugierig dazu, bleiben stehen - und trauen ihren Augen nicht. Mitten auf dem Bürgersteig steht: ein stattlicher Graureiher. Nur ein alter Mann beachtet ihn nicht. Er ist schon eine Weile hier, die Angel in den Spree-Arm versenkt, und schmunzelt. Für ihn ist nicht der Vogel das Schauspiel, sondern die Verwunderung der Passanten. »Den Reiher kenn’ ich, der kommt jeden Tag her und ruht sich aus«, erzählt er. »So wie ich.«

Wildtiere sind in Berlin mittlerweile häufige Nachbarn der Stadtbewohner. Auch Alexander Kulpok hat sich mit einem Reiher angefreundet, der bis vor Kurzem Goldfische aus dem Teich im Volkspark Schöneberg fischte. Doch Kulpoks Interesse an dem Vogel war auch professioneller Natur: Letztes Jahr veröffentlichte der Biologe und Chemiker das Buch »Tiere in der Stadt«. Auf der Grünen Woche sprach er darüber.

Dass Wildtiere die Nähe des Menschen suchen, gab es schon immer. Wie die Ringelnattern und Marder, die früher in den Bauernhäusern Mäuse erlegten - und dafür einen warmen Platz unterm Ofen sicher hatten. Ihre starke Präsenz in der Großstadt ist aber ein neueres Phänomen. Die Voraussetzung dafür schuf die Industrialisierung, erzählt Kulpok. Durch sie wurde die Steinstruktur der Städte aufgebrochen, Stadtmauern verschwanden. Parks entstanden, Seen und Wälder lagen plötzlich innerhalb der ausufernden Metropole. Die Bomben des 20. Jahrhunderts rissen zusätzliche Freiflächen innerhalb der Stadtgrenzen.

Die »Big Five« unter den wilden Berlinern: Kaninchen, Fuchs, Marder, Wildschwein und Waschbär. In der Stadt ändert sich ihr Verhalten. Sie ernähren sich von angelegtem Grün und von Übriggebliebenem. Im Görlitzer Park oder im Kanzlergarten leben Reineke und Langohr in Eintracht nebeneinander. Vögel singen lauter, höher und zu den Zeiten, wo die Stadt am stillsten ist, also nachts. Aus Zugtieren werden Sesshafte. Am stärksten hat sich die Schwarzdrossel verändert. Zoologen denken darüber nach, sie in zwei Arten aufzuteilen: eine Land- und eine Stadtamsel.

Lange Zeit betrachtete die Wissenschaft die Stadtfauna als Degenerierung der Natur - oder gar nicht. »Heute sieht man die Zuwanderung als besonders pfiffiges Verhalten an«, sagt Kulpok. Denn sie ist ein normaler Anpassungsprozess. »Pioniere« nennt er die Tiere, die die ländliche Umgebung verlassen und ihr Glück in der Stadt versuchen. Die von Naturschützern beschworene Landflucht vor Jägern und zerstörter Natur sei nur eine unzureichende Erklärung. »Das ist ein Märchen«, meint der Stadtökologe. Gerade die Tiere, denen es gut geht, die keine natürlichen Feinde und genug zu essen haben, ziehen in die Stadt. Wie die Füchse, denen es in ihren Revieren zu eng wird. »Wir sind aber keine Arche Noah«, warnt Kulpok. »Die, die auf der Roten Liste stehen, werden auch in der Stadt kein neues Zuhause finden.«

Für die anderen bietet Berlin beste Bedingungen. Über 30 000 Tierarten leben hier. Die großen, sichtbaren machen nur den kleinsten Teil davon aus. Sie sind es aber, über die immer wieder gesprochen wird - und die Probleme machen können. Zum Beispiel in Zoo und Tierpark. Vor allem Enten, aber auch Pinguine, junge Flamingos, Kängurus und kleine Antilopen fielen Beutejägern wie Fuchs, Marderhund und verwilderten Katzen schon zum Opfer. Wie viele, kann Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz nicht sagen. »Es ist aber eine Menge.« Er fordert, dass im Land Berlin wieder Füchse ohne Sondergenehmigung geschossen werden dürfen. »Wenn das erste Kind ernsthaft gebissen wurde, werden die Leute wohl aufwachen.«

Manchem Berliner ist es jetzt schon zu viel mit den neuen Mitbewohnern. Die meisten sympathisieren aber mit den Wildlingen. »Man kann ihren Besuch auch als Kompliment auffassen: So schlimm kann es hier also nicht sein«, scherzt Stadtökologe Kulpok. Rational sei aber auch das nicht. Auch die Stadt sei eben Teil der Ökologie und kein abgeschlossenes System. »Nur haben wir verlernt, mit Wildtieren umzugehen«, sagt er. In den USA sei es selbstverständlich, keinen Kompost im Garten abzuladen, wo Bären wohnen. An der dortigen Ostküste haben Wolfskojoten Einzug gehalten - Tiere, die im Gegensatz zum hiesigen Rotfell jenseits jeder Niedlichkeitsschwelle liegen. In Washington D.C. gibt es mittlerweile Verhaltensseminare für Schüler. Was man dort lernt? »Sich Respekt bei den Tieren zu verschaffen - indem man selbst ruhig bleibt und sie in Ruhe lässt.«

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