nd-aktuell.de / 24.01.2014 / Kultur / Seite 16

Holocaust in Versen

LESEPROBE

Bei seinem Erscheinen im Januar 1975 stieß »Holocaust« vielfach auf Unverständnis und Ablehnung. Kritiker vermochten in dem schmalen Band nicht mehr zu sehen als »eine beinahe unerträgliche Litanei der Grausamkeit und des Schreckens« oder unterstellten Reznikoff gar »eine ausgedehnte Übung in Masochismus unter dem Deckmantel ›Zeugnis abzulegen‹«. Vor allem der zweite Vorwurf musste Charles Reznikoff hart getroffen haben, weil Zeugnis abzulegen in der Tat ein zentrales Anliegen seiner Dichtung war, aber nicht als vorgeschobener Grund, um sich an der Darstellung menschlichen Leids zu weiden. Stattdessen ging es ihm vielmehr darum, ein so unfaßbares Geschehen wie den Holocaust so sprachlich wiederzugeben, dass der Leser nicht reflexartig mit Abscheu und Entsetzen darauf reagiert, sondern sich mit dem Geschehen auseinandersetzt ... »Holocaust« ist der letzte Gedichtband des Autors, erschienen in Reznikoffs einundachtzigstem Lebensjahr ...

Wie schon bei »Testimony« bezog Reznikoff sein Material ausschließlich aus amtlichen Dokumenten, in diesem Fall den Gerichtsakten der Nürnberger Prozesse und des Eichmann-Prozesses in Jerusalem. Und hier wie dort ist die Stimme des Autors nicht die des moralischen Anklägers, sondern des gänzlich hinter den Ereignissen zurücktretenden Chronisten. In zwei Abteilungen, die lose der Chronologie des Völkermords von den Deportationen bis zur Vernichtung in den Gaskammern entsprechen, konfrontieren die Gedichte in »Holocaust« den Leser mit einem Geschehen. das sich oft an der Grenze menschlicher Vorstellungskraft bewegt ... Das Ergebnis dieses Verfahrens ließe sich als »dokumentarische Dichtung« bezeichnen, die das lyrische Subjekt ausspart, ohne auf die Elemente lyrischen Sprechens zu verzichten. Mit »Holocaust« hat Reznikoff auf einzigartige Weise gezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, über den Völkermord an den Juden ohne moralischen Zeigefinger oder im Tonfall tiefer Betroffenheit zu sprechen. Als Beleg dafür, dass Dichtung auch im Angesicht äußerster Barbarei und Rohheit nicht verstummen muss, ist »Holocaust« ein großes, ein bleibendes Zeugnis.

Aus dem Vorwort von Georg Deggerich zur Neuauflage von Charles Reznikoffs (1894 - 1976) »Holocaust« (Leipziger Literaturverlag, 171 S., geb., 19,95 €.